Neue Deutsche Welle


"Neue Deutsche Welle" a short story by Wolf-Peter Arand
„„Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei…“ – Ich hasse diesen Schlager. Was will mir sein Text überhaupt sagen? Es ist alle nicht so schlimm? Stimmt. Kann es nicht sein, wenn jemand den Vergleich mit einer Wurst heranzieht. Im ewigen Kampf gegen Klischees ist es natürlich kontraproduktiv, dass so ein dämliches Wurstlied von einem Deutschen stammt („Ah, ja. Für die verdammten Krauts geht es immer nur um Würste, Autos und Weißbier.“).
 
 Viel Freude hat mir dieses Liedchen nicht gebracht. Reich hat es mich ebenfalls nicht gemacht, auch wenn ich es geschrieben habe. Damals war es mehr ein Witz; ich hätte nie gedacht, dass jemand mit diesem Mumpitz einmal Geld verdienen könnte. Doch das haben die.

 Ich war 25 Jahre alt und habe damals 200 Mark dafür bekommen, dass ich den Song komponierte. Da meine finanzielle und allgemeine Lage zu dem damaligen Zeitpunkt wieder einmal prekär war, kam mir der Deal mehr als gelegen. Ich habe tagelang komponiert, doch so richtig wollten die Töne nicht klingen und die Worte nicht fließen. Je näher der Abgabetermin rückte, desto nervöser wurde ich. Hatte ich Angst? Ja. Wer hätte die nicht, bei diesen Auftraggebern. Ich weiß bis heute nicht so richtig, wer die waren. Sie standen eines Morgens vor der Wohnungstür meiner kleinen Bude in Ostberlin. Ich ging zu diesem Zeitpunkt noch auf die Musikhochschule „Hanns Eisler“ und befand mich in den Vorbereitungen für meine Abschlussarbeit… wem mache ich etwas vor – ich war die meiste Zeit betrunken, auf der Suche nach Inspiration und nur einen Steinwurf davon entfernt, von der Schule geworfen zu werden, nachdem ich in einer stillen Minute im Vollsuff in die Fahnenkiste gekotzt hatte, in der der Rektor die Flagge des sozialistischen Vaterlandes aufzubewahren pflegte. Man vermutete mich zwar als Täter, doch konnten sie mir nie etwas nachweisen – bis heute nicht.
An diesem Morgen öffnete ich verkatert meine Wohnungstür und blickte in die sauber rasierten Gesichter von zwei Mitvierzigern. Sie sahen aus wie ein paar Gestapo-Agenten. Wenn ich auch für einen kleinen Moment geglaubt hatte, die Stasi stehe vor mir, verwarf sich der Gedanke schnell wieder. Diese beiden Kanallien waren dafür viel zu unauffällig. Offizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit waren für das ein wenig geschulte Auge stets gut zu erkennen. Wenn jemand in einer Gruppe Menschen versuchte, möglichst unauffällig zu sein, dann war’s ein Ermittler. Ich frage mich, ob die jemals begriffen haben, dass ihre zwanghafte Unauffälligkeit tausend mal aggressiver ins Auge sprang als zwei Typen in Gestapo-Gedenk-Kluft an einem helllichten Sommervormittag.

Ich musterte die beiden etwas unschlüssig. „Ja? Kann ich helfen?“, nuschelte ich verschlafen.
„Herr Genosse Willem A.?“ - Typischer Stasi-Gesprächseinstieg.
„Wer will das wissen?“ – Typische Antwort eines Verdächtigen.
„Wir würden das mit Ihnen lieber in Ihrer Wohnung besprechen“, mit diesen Worten hielt er mir einen Ausweis unter die Nase. Zu was für einer Behörde er und sein Spießgeselle nun gehörten konnte ich nicht lesen, dafür war die Bewegung zu schnell. Hätte ich an diesem Punkt mein Rückgrat ein wenig gerader gemacht, dann wäre vielleicht alles anders gekommen…
Ich ließ die beiden Männer ein, murmelte eine halbherzige Entschuldigung für die Unordnung und schlurfte, den argusäugigen Besuch im Schlepptau, in die Küche. Ich schnippte eine Schabe fort und setzte mir einen Kaffee auf. Mir gingen alle möglichen Szenarien durch den Kopf. Schließlich räusperte sich einer der beiden. Während er sprach, wackelte sein Ohr ganz leicht: „Eine interessante Behausung haben sie hier.“ Er räusperte sich und fuhr wackelohrig fort:„ Sie studieren an der Hanns Eisler, nicht wahr?“ Es war mehr eine Feststellung. Das Kaffeewasser pfiff und ich goss es in meine Tasse, wo es sich in dampfendes Schwarz verwandelte.
„Fast alle ihre Professoren halten große Stücke auf Ihr musikalisches Talent. Sie könnten ein ganz Großer werden, sagte man uns. Aber niemand glaubt daran, dass sie es packen werden, wenn nicht ein Wunder geschieht.“ Der Ohrenwackler hatte sich vor mir aufgebaut. Seinen Kollegen spürte ich in meinem Rücken. Sie hatten mich in die Zange genommen. Der Wackler fragte: „Wissen Sie, warum Ihnen niemand eine Zukunft als Musiker zutraut?“
„Weil Sie ein Störenfried sind.“, raunte sein Kollege hinter mir.
„Ein wenig rebellisch sein, das gehört dazu, zumal in Ihrem Alter und in Ihrem Berufszweig.“ Wackel Ohr, wackel! Wer kann da noch zuhören? „Aber Sie haben es geschafft, alle und jeden zu verprellen.“
 Ich nippte an meinem Kaffee.
„Und Genosse A.? Machen Sie sich keine Gedanken um die Republikflucht. Sie werden weder dies- noch jenseits der Mauer als Musiker arbeiten. Dafür werden wir sorgen.“
Der Wackelohrige wandte sich ab. Ich ahnte, was jetzt kam. Sie würden mir ein Angebot machen, das mich aus dieser brenzligen Situation erretten würde. Der Typ, der bisher in meinem Rücken gestanden hatte, trat vor mich und setzte sich mir gegenüber. Seine Augen waren stahlblau und es schien, als würde er nie blinzeln. Er räusperte sich: „Genosse A., wir möchten Ihnen keinen unnötigen Schrecken einjagen. Wir möchten Ihnen helfen. Machen Sie sich Ihre Situation bewusst. Sind Sie sicher, dass Sie Musiker sein wollen?“ Ich nickte, nervös und idiotisch. Der mit den stahlblauen Augen atmete hörbar durch: „Ich bin froh, dass Sie das sagen, Genosse A. Momentan stehen die Chancen natürlich denkbar schlecht.“ Eine Kunstpause. „Aber wir können Ihnen helfen.“
Das Wackelohr schaltete sich wieder ein: „Wir werden dafür sorgen, dass sich Ihr Stand bei Ihren Professoren und Ihren Mitmenschen verbessert. Wir sorgen dafür, dass Sie nach Ihrem Abschluss ein Engagement bekommen, und Sie werden mit unserer Hilfe ein gefeierter und geschätzter Vertreter Ihres Faches. Wenn Sie unsere Hilfe allerdings ausschlagen, dann…“, er zuckte mit den Schultern und der Blauäugige schaltete sich wieder in das Gespräch ein: „Aber soweit soll es nicht kommen, wenn es nach dem Willen unserer Vorgesetzten geht, Genosse A. Und unter uns: Ich würde es persönlich schade finden, käme Ihre Musik nicht einem großen Publikum zu Ohren.“ Er lächelte wohlwollend: „Sie brauchen auch keine Angst haben, wir verlangen im Gegenzug nichts illegales oder verwerfliches von Ihnen. Lediglich einen Dienst an Ihrem sozialistischen Vaterland, einen kleinen aber sehr wirkungsvollen Beitrag im Kampf gegen den alles verschlingenden Faschismus des Klassenfeindes.“ Also doch Stasi? Also doch andere ausspionieren? Berichte liefern? IM sein? Der mit den stahlblauen Augen fuhr fort: „Was wir von Ihnen wollen, Genosse A., ist, dass Sie ein Musikstück komponieren, das unseren Ansprüchen genügt.“
Ich glotzte ihn ungläubig an: „Das soll meine Gelegenheit sein, meinem sozialistischen Vaterland zu dienen?“
Die blauen Augen suchten den Kollegen. Sie tauschten einen stummen Blick. Schließlich nickte der Wackelohrige.
„Also gut“, seufzte der Blauäugige, „Sehen Sie es als ein Entgegenkommen von unserer Seite, weil ich Sie und Ihr Schaffen persönlich sehr schätze.“ Er räusperte sich und das Wackelohr fragte trocken: „Genosse A., haben Sie schon einmal etwas von Punk gehört?“ Diese moderne Musikrichtung, die sich innerhalb der letzten zehn Jahre in der Jugendkultur des Westens ausgebreitet hat?“
Ich schüttelte pflichtbewusst meinen Kopf. Das Wackelohr verdrehte die Augen: „Sie haben also noch nichts von der zersetzenden Musik gehört, die nach und nach die Gemüter der Sprösslinge der Klassenfeinde zerrüttet?“
„Genosse A.,“ mischte sich das Blauauge ein, „Wir verstehen das professionelle Interesse, das ein Musiker Ihres Kalibers an dieser Musikrichtung hat.“
Ich nickte.
„Gut“, sagte das Wackelohr und zog eine Zigarette hervor, „Erlauben Sie?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, zündete er sich seine Kippe an und fuhr fort: „Wie Sie sicherlich wissen, Genosse, wird eine weitere Musikrichtung in der Westzone stetig populärer. Die sogenannte ‚Neue Deutsche Welle‘. Wissen Sie zufällig, was diese beiden Auswüchse bourgeoiser Selbstgerechtigkeit gemein haben?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Wissen Sie, wie man einen Krieg gewinnt?“, er zog an seiner Kippe. „Moral“, antwortete das Blauauge ohne Wimpernzucken, „Eiserne Moral und Disziplin.“ Das Wackelohr stieß eine Qualmwolke aus: „ Der Sieger einer Auseinandersetzung ist letztlich derjenige, der die standhaftere Moral hat.“
Ich erhob mich und öffnete das Fenster und das dröhnende Draußen brach herein. Auf der Prenzlauer Allee brummte der Nachmittagsverkehr. In der Ferne hob sich der Fernsehturm aus dem Dunst und glänzte sanft in der Sonne. „Was habe ich mit der Moral zu tun?“
Das Wackelohr löschte seine Zigarette auf einem Teller an der Spüle: „Alles Genosse A. Sie sind doch Musiker, Kulturschaffender. Und Ihnen liegt doch der Frieden am Herzen, oder?“
„Wem nicht?“
„Sehen Sie, die Aufgabe unserer Abteilung ist es, den Unwissenden und Fehlgeleiteten die Wichtigkeit unseres Friedens ins Bewusstsein zu rufen. Wie gelingt dies besser als durch Musik?“, fragte der Blauäugige und trat neben mich. Er legte seine Hand auf meine Schulter. Ich folgte dem Druck und ließ mich wieder auf meinen Stuhl sinken. Der Blauäugige schloss das Fenster und es wurde wieder still in meiner kleinen Wohnung.
Das Wackelohr setzte sich mir gegenüber: „Haben Sie schon einmal etwas von Dr. Philipp Myller gehört? Er ist ein Musikwissenschaftler und Psychologe, der seit vielen Jahren auf dem Gebiet der Friedenssicherung arbeitet. Zusammen mit sowjetischen Genossen und Genossinnen gelang dem Dr. in den 70er Jahren ein erster Durchbruch. Es war ihm möglich, eine musikalische Formel zu entwickeln, die den Hörer der Kompositionen, die mit der Hilfe dieser Formel entstanden, tatsächlich friedensliebender macht. Die erste Musik, die gezielt mit der Hilfe dieser Erkenntnisse des Dr. Myllers komponiert wurde, ist eben jener Punk der 70er Jahre.“
Ich glotzte: „Punk ist eine sozialistische Erfindung?“
Die beiden nickten und das Wackelohr fuhr fort: „Gleiches gilt für die sogenannte Neue Deutsche Welle. Auch diese Musik nutzt die myllersche Formel, die auf die Moral der Hörer einwirkt. Sie, Genosse A., werden für uns ein Musikstück komponieren, dass auf dieser Formel basiert.“
Ich überlegte. Wie sollte ich aus dieser Sache bloß wieder herauskommen? Die beiden erhoben sich. Ich hatte einen Tag Bedenkzeit. Wenn ich bereit sei, die diktierten Bedingungen zu akzeptieren, sollte ich eine Kerze in mein Zimmerfenster stellen. Ehe ich mich versah, war die Tür hinter den Beiden ins Schloss gefallen und ich blieb, wie vom Blitz getroffen, alleine in meiner kleinen Wohnung zurück. Das hatte man also davon, wenn man auf die Flagge der DDR kotzte.
Die folgenden 24 Stunden verbrachte ich in aufgeregtem Zweifel, doch als der Abend kam, stellte ich eine Kerze ins Fenster. Was sollte ich sonst tun? Es dauerte nicht lange und das Verhalten der Professoren mir gegenüber änderte sich. Doch das war nur die Oberfläche. Unter den freundlichen Gesichtern und den netten Worten wenn ich in der Nähe war, verbarg sich eine wachsende Abneigung, die schließlich in blanken, in der Öffentlichkeit unterdrückten und gegenüber mir verborgen gehaltenen Hass mündete. Doch davon wusste ich lange nichts. Zwar verbrachte niemand mehr Zeit mit mir, wenn er nicht musste, aber mein wachsender Erfolg und die damit anfallende Arbeit lenkten mich von diesem maroden Zustand ab. Nach dem Fall der Mauer sollte sich diese Ignoranz schließlich rächen. Ich fand keine Engagements mehr. Niemand war mehr bereit, mit mir zu arbeiten, geschweige denn in einem Raum zu sitzen. Ich war und bin seither der Gebrandmarkte.
Was das Musikstück angeht, so komponierte ich schließlich eben jenes „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ in wenigen Stunden. Ich hielt mich dabei aufs Strengste an die myllersche Formel. Die Aufnahme des Demotapes lief problemlos und ich deponierte die Bänder, wie es mir aufgetragen wurde, zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Mülleimer am U-Bahnhof Alexanderplatz. Erst nach der Wende erfuhr ich, was mit meiner Komposition geschehen war. Sie ist an Stephan Remmler gegangen, den Frontmann der Band Trio, die 1982 mit dem Lied „Da da da“ einen großen Hit landeten. Remmler veröffentlichte meinen Song 1986 und erzielte damit einen Evergreen, dessen Status durch die Coverversionen Werner Böhms aka Gottlieb Wendehals‘ bzw. der James Last Schnarchversion verfestigt wurde.
Ich versuchte Mitte der 90er, mit Remmler Kontakt aufzunehmen, doch gänzlich erfolglos. Als ich ihn darauf ansprach, dass sein „Wurst“-Lied doch nicht von ihm sei, sondern aus meiner Feder stamme, drohte er mir mit einem Anwalt und versprach, mich zu verklagen, sollte ich mit dieser Lüge hausieren gehen.
Auch meine Recherchen zu Dr. Myller und dieser ominösen Geheimabteilung blieben weitestgehend erfolglos. Erst vor einem Jahr gelang es mir, einen Mann ausfindig zu machen, der bereit war, sein Wissen zu teilen. Er verriet mir, dass es eine geheime Abteilung innerhalb des DDR-Staatsapparats gegeben haben soll, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Westen auf kultureller Ebene zu vernichten. Demnach wurde mit Hilfe der UdSSR ein Test durchgeführt, in dem eine neue destruktive Jugendkultur etabliert wurde: der Punk. Auf der Grundlage dieses Experiments initiierte diese Abteilung eben auch die Neue Deutsche Welle. So sollte die BRD von innen heraus zersetzt und damit die Überlegenheit des sozialistischen Ostblocks verdeutlicht werden.
Geklappt hat das nicht.
Ich bin kein Musiker mehr.“
Der junge Mann konnte sich sein Grinsen nicht mehr verkneifen. Der Alte mit den strähnigen langen Haaren und dem speckigen Hut grunzte unzufrieden. Er hätte es wissen sollen. Missmutig kippte er sein Bier und verließ die Bar. Bevor die Tür ins Schloss fiel, hörte er den jungen Mann und seine Freunde am Tresen losprusten.
Der kalte Berliner Winterwind fuhr ihm in die Knochen und der Alte schlang sich seinen Anorak enger um seinen Körper.

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