Neue Deutsche Welle
„„Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei…“ – Ich hasse diesen Schlager. Was will mir sein Text überhaupt sagen? Es ist alle nicht so schlimm? Stimmt. Kann es nicht sein, wenn jemand den Vergleich mit einer Wurst heranzieht. Im ewigen Kampf gegen Klischees ist es natürlich kontraproduktiv, dass so ein dämliches Wurstlied von einem Deutschen stammt („Ah, ja. Für die verdammten Krauts geht es immer nur um Würste, Autos und Weißbier.“).
Viel Freude hat mir dieses Liedchen
nicht gebracht. Reich hat es mich ebenfalls nicht gemacht, auch wenn ich es
geschrieben habe. Damals war es mehr ein Witz; ich hätte nie gedacht, dass
jemand mit diesem Mumpitz einmal Geld verdienen könnte. Doch das haben die.
Ich war 25 Jahre alt und habe damals
200 Mark dafür bekommen, dass ich den Song komponierte. Da meine finanzielle
und allgemeine Lage zu dem damaligen Zeitpunkt wieder einmal prekär war, kam
mir der Deal mehr als gelegen. Ich habe tagelang komponiert, doch so richtig
wollten die Töne nicht klingen und die Worte nicht fließen. Je näher der
Abgabetermin rückte, desto nervöser wurde ich. Hatte ich Angst? Ja. Wer hätte
die nicht, bei diesen Auftraggebern. Ich weiß bis heute nicht so richtig, wer
die waren. Sie standen eines Morgens vor der Wohnungstür meiner kleinen Bude in
Ostberlin. Ich ging zu diesem Zeitpunkt noch auf die Musikhochschule „Hanns
Eisler“ und befand mich in den Vorbereitungen für meine Abschlussarbeit… wem
mache ich etwas vor – ich war die meiste Zeit betrunken, auf der Suche nach
Inspiration und nur einen Steinwurf davon entfernt, von der Schule geworfen zu
werden, nachdem ich in einer stillen Minute im Vollsuff in die Fahnenkiste
gekotzt hatte, in der der Rektor die Flagge des sozialistischen Vaterlandes
aufzubewahren pflegte. Man vermutete mich zwar als Täter, doch konnten sie mir
nie etwas nachweisen – bis heute nicht.
An diesem Morgen öffnete ich
verkatert meine Wohnungstür und blickte in die sauber rasierten Gesichter von
zwei Mitvierzigern. Sie sahen aus wie ein paar Gestapo-Agenten. Wenn ich auch
für einen kleinen Moment geglaubt hatte, die Stasi stehe vor mir, verwarf sich
der Gedanke schnell wieder. Diese beiden Kanallien waren dafür viel zu
unauffällig. Offizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit waren
für das ein wenig geschulte Auge stets gut zu erkennen. Wenn jemand in einer
Gruppe Menschen versuchte, möglichst unauffällig zu sein, dann war’s ein
Ermittler. Ich frage mich, ob die jemals begriffen haben, dass ihre zwanghafte
Unauffälligkeit tausend mal aggressiver ins Auge sprang als zwei Typen in
Gestapo-Gedenk-Kluft an einem helllichten Sommervormittag.
Ich
musterte die beiden etwas unschlüssig. „Ja? Kann ich helfen?“, nuschelte ich
verschlafen.
„Herr
Genosse Willem A.?“ - Typischer Stasi-Gesprächseinstieg.
„Wer
will das wissen?“ – Typische Antwort eines Verdächtigen.
„Wir
würden das mit Ihnen lieber in Ihrer Wohnung besprechen“, mit diesen Worten
hielt er mir einen Ausweis unter die Nase. Zu was für einer Behörde er und sein
Spießgeselle nun gehörten konnte ich nicht lesen, dafür war die Bewegung zu
schnell. Hätte ich an diesem Punkt mein Rückgrat ein wenig gerader gemacht,
dann wäre vielleicht alles anders gekommen…
Ich ließ die beiden Männer ein,
murmelte eine halbherzige Entschuldigung für die Unordnung und schlurfte, den
argusäugigen Besuch im Schlepptau, in die Küche. Ich schnippte eine Schabe fort
und setzte mir einen Kaffee auf. Mir gingen alle möglichen Szenarien durch den
Kopf. Schließlich räusperte sich einer der beiden. Während er sprach, wackelte
sein Ohr ganz leicht: „Eine interessante Behausung haben sie hier.“ Er
räusperte sich und fuhr wackelohrig fort:„ Sie studieren an der Hanns Eisler,
nicht wahr?“ Es war mehr eine Feststellung. Das Kaffeewasser pfiff und ich goss
es in meine Tasse, wo es sich in dampfendes Schwarz verwandelte.
„Fast alle ihre Professoren halten
große Stücke auf Ihr musikalisches Talent. Sie könnten ein ganz Großer werden,
sagte man uns. Aber niemand glaubt daran, dass sie es packen werden, wenn nicht
ein Wunder geschieht.“ Der Ohrenwackler hatte sich vor mir aufgebaut. Seinen
Kollegen spürte ich in meinem Rücken. Sie hatten mich in die Zange genommen. Der
Wackler fragte: „Wissen Sie, warum Ihnen niemand eine Zukunft als Musiker
zutraut?“
„Weil
Sie ein Störenfried sind.“, raunte sein Kollege hinter mir.
„Ein
wenig rebellisch sein, das gehört dazu, zumal in Ihrem Alter und in Ihrem
Berufszweig.“ Wackel Ohr, wackel! Wer kann da noch zuhören? „Aber Sie haben es
geschafft, alle und jeden zu verprellen.“
Ich nippte an meinem Kaffee.
„Und
Genosse A.? Machen Sie sich keine Gedanken um die Republikflucht. Sie werden
weder dies- noch jenseits der Mauer als Musiker arbeiten. Dafür werden wir
sorgen.“
Der Wackelohrige wandte sich ab. Ich
ahnte, was jetzt kam. Sie würden mir ein Angebot machen, das mich aus dieser
brenzligen Situation erretten würde. Der Typ, der bisher in meinem Rücken
gestanden hatte, trat vor mich und setzte sich mir gegenüber. Seine Augen waren
stahlblau und es schien, als würde er nie blinzeln. Er räusperte sich: „Genosse
A., wir möchten Ihnen keinen unnötigen Schrecken einjagen. Wir möchten Ihnen
helfen. Machen Sie sich Ihre Situation bewusst. Sind Sie sicher, dass Sie
Musiker sein wollen?“ Ich nickte, nervös und idiotisch. Der mit den stahlblauen
Augen atmete hörbar durch: „Ich bin froh, dass Sie das sagen, Genosse A.
Momentan stehen die Chancen natürlich denkbar schlecht.“ Eine Kunstpause. „Aber
wir können Ihnen helfen.“
Das
Wackelohr schaltete sich wieder ein: „Wir werden dafür sorgen, dass sich Ihr
Stand bei Ihren Professoren und Ihren Mitmenschen verbessert. Wir sorgen dafür,
dass Sie nach Ihrem Abschluss ein Engagement bekommen, und Sie werden mit
unserer Hilfe ein gefeierter und geschätzter Vertreter Ihres Faches. Wenn Sie
unsere Hilfe allerdings ausschlagen, dann…“, er zuckte mit den Schultern und
der Blauäugige schaltete sich wieder in das Gespräch ein: „Aber soweit soll es
nicht kommen, wenn es nach dem Willen unserer Vorgesetzten geht, Genosse A. Und
unter uns: Ich würde es persönlich schade finden, käme Ihre Musik nicht einem
großen Publikum zu Ohren.“ Er lächelte wohlwollend: „Sie brauchen auch keine
Angst haben, wir verlangen im Gegenzug nichts illegales oder verwerfliches von
Ihnen. Lediglich einen Dienst an Ihrem sozialistischen Vaterland, einen kleinen
aber sehr wirkungsvollen Beitrag im Kampf gegen den alles verschlingenden
Faschismus des Klassenfeindes.“ Also doch Stasi? Also doch andere
ausspionieren? Berichte liefern? IM sein? Der mit den stahlblauen Augen fuhr
fort: „Was wir von Ihnen wollen, Genosse A., ist, dass Sie ein Musikstück
komponieren, das unseren Ansprüchen genügt.“
Ich
glotzte ihn ungläubig an: „Das soll meine Gelegenheit sein, meinem
sozialistischen Vaterland zu dienen?“
Die
blauen Augen suchten den Kollegen. Sie tauschten einen stummen Blick.
Schließlich nickte der Wackelohrige.
„Also
gut“, seufzte der Blauäugige, „Sehen Sie es als ein Entgegenkommen von unserer
Seite, weil ich Sie und Ihr Schaffen persönlich sehr schätze.“ Er räusperte
sich und das Wackelohr fragte trocken: „Genosse A., haben Sie schon einmal
etwas von Punk gehört?“ Diese moderne Musikrichtung, die sich innerhalb der
letzten zehn Jahre in der Jugendkultur des Westens ausgebreitet hat?“
Ich
schüttelte pflichtbewusst meinen Kopf. Das Wackelohr verdrehte die Augen: „Sie
haben also noch nichts von der zersetzenden Musik gehört, die nach und nach die
Gemüter der Sprösslinge der Klassenfeinde zerrüttet?“
„Genosse
A.,“ mischte sich das Blauauge ein, „Wir verstehen das professionelle
Interesse, das ein Musiker Ihres Kalibers an dieser Musikrichtung hat.“
Ich
nickte.
„Gut“,
sagte das Wackelohr und zog eine Zigarette hervor, „Erlauben Sie?“ Ohne meine
Antwort abzuwarten, zündete er sich seine Kippe an und fuhr fort: „Wie Sie
sicherlich wissen, Genosse, wird eine weitere Musikrichtung in der Westzone
stetig populärer. Die sogenannte ‚Neue Deutsche Welle‘. Wissen Sie zufällig,
was diese beiden Auswüchse bourgeoiser Selbstgerechtigkeit gemein haben?“
Ich
zuckte mit den Schultern.
„Wissen
Sie, wie man einen Krieg gewinnt?“, er zog an seiner Kippe. „Moral“, antwortete
das Blauauge ohne Wimpernzucken, „Eiserne Moral und Disziplin.“ Das Wackelohr
stieß eine Qualmwolke aus: „ Der Sieger einer Auseinandersetzung ist letztlich
derjenige, der die standhaftere Moral hat.“
Ich erhob mich und öffnete das
Fenster und das dröhnende Draußen brach herein. Auf der Prenzlauer Allee
brummte der Nachmittagsverkehr. In der Ferne hob sich der Fernsehturm aus dem
Dunst und glänzte sanft in der Sonne. „Was habe ich mit der Moral zu tun?“
Das
Wackelohr löschte seine Zigarette auf einem Teller an der Spüle: „Alles Genosse
A. Sie sind doch Musiker, Kulturschaffender. Und Ihnen liegt doch der Frieden
am Herzen, oder?“
„Wem
nicht?“
„Sehen
Sie, die Aufgabe unserer Abteilung ist es, den Unwissenden und Fehlgeleiteten
die Wichtigkeit unseres Friedens ins Bewusstsein zu rufen. Wie gelingt dies
besser als durch Musik?“, fragte der Blauäugige und trat neben mich. Er legte
seine Hand auf meine Schulter. Ich folgte dem Druck und ließ mich wieder auf
meinen Stuhl sinken. Der Blauäugige schloss das Fenster und es wurde wieder
still in meiner kleinen Wohnung.
Das
Wackelohr setzte sich mir gegenüber: „Haben Sie schon einmal etwas von Dr. Philipp
Myller gehört? Er ist ein Musikwissenschaftler und Psychologe, der seit vielen
Jahren auf dem Gebiet der Friedenssicherung arbeitet. Zusammen mit sowjetischen
Genossen und Genossinnen gelang dem Dr. in den 70er Jahren ein erster
Durchbruch. Es war ihm möglich, eine musikalische Formel zu entwickeln, die den
Hörer der Kompositionen, die mit der Hilfe dieser Formel entstanden,
tatsächlich friedensliebender macht. Die erste Musik, die gezielt mit der Hilfe
dieser Erkenntnisse des Dr. Myllers komponiert wurde, ist eben jener Punk der
70er Jahre.“
Ich
glotzte: „Punk ist eine sozialistische Erfindung?“
Die
beiden nickten und das Wackelohr fuhr fort: „Gleiches gilt für die sogenannte
Neue Deutsche Welle. Auch diese Musik nutzt die myllersche Formel, die auf die
Moral der Hörer einwirkt. Sie, Genosse A., werden für uns ein Musikstück
komponieren, dass auf dieser Formel basiert.“
Ich
überlegte. Wie sollte ich aus dieser Sache bloß wieder herauskommen? Die beiden
erhoben sich. Ich hatte einen Tag Bedenkzeit. Wenn ich bereit sei, die
diktierten Bedingungen zu akzeptieren, sollte ich eine Kerze in mein Zimmerfenster
stellen. Ehe ich mich versah, war die Tür hinter den Beiden ins Schloss
gefallen und ich blieb, wie vom Blitz getroffen, alleine in meiner kleinen
Wohnung zurück. Das hatte man also davon, wenn man auf die Flagge der DDR
kotzte.
Die folgenden 24 Stunden verbrachte
ich in aufgeregtem Zweifel, doch als der Abend kam, stellte ich eine Kerze ins
Fenster. Was sollte ich sonst tun? Es dauerte nicht lange und das Verhalten der
Professoren mir gegenüber änderte sich. Doch das war nur die Oberfläche. Unter
den freundlichen Gesichtern und den netten Worten wenn ich in der Nähe war,
verbarg sich eine wachsende Abneigung, die schließlich in blanken, in der
Öffentlichkeit unterdrückten und gegenüber mir verborgen gehaltenen Hass mündete.
Doch davon wusste ich lange nichts. Zwar verbrachte niemand mehr Zeit mit mir,
wenn er nicht musste, aber mein wachsender Erfolg und die damit anfallende
Arbeit lenkten mich von diesem maroden Zustand ab. Nach dem Fall der Mauer
sollte sich diese Ignoranz schließlich rächen. Ich fand keine Engagements mehr.
Niemand war mehr bereit, mit mir zu arbeiten, geschweige denn in einem Raum zu
sitzen. Ich war und bin seither der Gebrandmarkte.
Was
das Musikstück angeht, so komponierte ich schließlich eben jenes „Alles hat ein
Ende, nur die Wurst hat zwei“ in wenigen Stunden. Ich hielt mich dabei aufs
Strengste an die myllersche Formel. Die Aufnahme des Demotapes lief problemlos
und ich deponierte die Bänder, wie es mir aufgetragen wurde, zu einem
bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Mülleimer am U-Bahnhof Alexanderplatz.
Erst nach der Wende erfuhr ich, was mit meiner Komposition geschehen war. Sie
ist an Stephan Remmler gegangen, den Frontmann der Band Trio, die 1982 mit dem
Lied „Da da da“ einen großen Hit landeten. Remmler veröffentlichte meinen Song
1986 und erzielte damit einen Evergreen, dessen Status durch die Coverversionen
Werner Böhms aka Gottlieb Wendehals‘ bzw. der James Last Schnarchversion verfestigt
wurde.
Ich
versuchte Mitte der 90er, mit Remmler Kontakt aufzunehmen, doch gänzlich
erfolglos. Als ich ihn darauf ansprach, dass sein „Wurst“-Lied doch nicht von
ihm sei, sondern aus meiner Feder stamme, drohte er mir mit einem Anwalt und
versprach, mich zu verklagen, sollte ich mit dieser Lüge hausieren gehen.
Auch
meine Recherchen zu Dr. Myller und dieser ominösen Geheimabteilung blieben
weitestgehend erfolglos. Erst vor einem Jahr gelang es mir, einen Mann
ausfindig zu machen, der bereit war, sein Wissen zu teilen. Er verriet mir,
dass es eine geheime Abteilung innerhalb des DDR-Staatsapparats gegeben haben
soll, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Westen auf kultureller Ebene
zu vernichten. Demnach wurde mit Hilfe der UdSSR ein Test durchgeführt, in dem
eine neue destruktive Jugendkultur etabliert wurde: der Punk. Auf der Grundlage
dieses Experiments initiierte diese Abteilung eben auch die Neue Deutsche
Welle. So sollte die BRD von innen heraus zersetzt und damit die Überlegenheit
des sozialistischen Ostblocks verdeutlicht werden.
Geklappt
hat das nicht.
Ich
bin kein Musiker mehr.“
Der junge Mann konnte sich sein
Grinsen nicht mehr verkneifen. Der Alte mit den strähnigen langen Haaren und
dem speckigen Hut grunzte unzufrieden. Er hätte es wissen sollen. Missmutig
kippte er sein Bier und verließ die Bar. Bevor die Tür ins Schloss fiel, hörte
er den jungen Mann und seine Freunde am Tresen losprusten.
Der
kalte Berliner Winterwind fuhr ihm in die Knochen und der Alte schlang sich
seinen Anorak enger um seinen Körper.
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