Ein unerwarteter Gast

"Ein unerwarteter Gast" a short story by Wolf-Peter Arand
Die ganze Geschichte liegt knappe drei Jahre zurück. Es war schweinekalt draußen in den Straßen, 10 Grad unter null nachts. Wenn der Wind einem ins Gesicht blies, fühlte es sich an, als würde man mit einer kalten Socke voller rostiger Nägel verhauen. Von den Händen, die vor lauter  Kälte fast abzufallen drohten, sei hier ganz zu schweigen. Ich höre jetzt schon die Klugscheißer kreischen, das 10 Grad unter null und ein bisschen Wind nichts seien zu der Nacht vor einem halben Jahr, als sie in Moskau waren, Businesstrip, Flug erster Klasse, Übernachtung im Hilton, Fortbewegung in dem Leihwagen der Firma, mit Chauffeur, klar; aber wenn sie dann auf der Straße standen, da spürten sie die Kälte. Sollen diese Typen doch reden. Ahnung was sie da erzählen, haben sie ja doch nicht. Ich mußte selbst zwar noch nie bei diesen Temperaturen auf der Straße übernachten, aber ist das nötig, um ein Urteil über die Unwirklichkeit einer Sache wie der Lufttemperatur abgeben zu können? Kalt ist kalt und jegliche Äußerung, daß es noch kälter geht, ist dekadent und zudem obsolet, denn schlimmer geht immer. 

Damals hatte ich einen kleinen Job in der Redaktion einer Zeitschrift, die über Filme und das sogenannte Business schrieb (Warum es Business heißt, habe ich nie verstanden.). Ich war relativ frustriert in diesem Job, er nervte mich. Die Mitarbeiter waren, bis auf ein paar Ausnahmen, allesamt Idioten, die von wenig eine Ahnung hatten, von Filmen oder dem Schreiben über etwas schon gar nicht. Sie waren dumpfe Gestalten, Hüllen von Menschen, die durch ihre Arbeit bei der Zeitung ____ verzweifelt oder irre geworden waren – manchmal auch beides – von dem Verlust ihrer Moral und Selbstachtung ganz zu schweigen. Kurz: Ich war nicht gerade inspiriert und dieser Job drohte, daß zu schaffen, was den Sesselpupsern an der Uni in sieben Jahren nicht gelungen war – ich verlor meinen Drang zum Schreiben. Mir ging schlicht die Inspiration flöten und ich lief Gefahr ebenso irre und verzweifelt zu werden wie meine Kollegen.

In diesem desolaten Zustand wankte ich also eines kalten Winterabends nach Hause. Ich kam von einer 12 Stunden Schicht und die Aussicht am nächsten Tag nach nur knappen 4 ½ Stunden Schlaf wieder hinter diesem Schreibtisch sitzen zu müssen, erschien mir mehr als erbärmlich.
Es war zum Heulen.

Ich besorgte mir einen Sixer Bier in einem Späti und war fast an meiner Haustür – Ich hatte bereits meinen Schlüssel in der Hand – als ich vor meinem Hauseingang ein zusammengesunkenes Knäul liegen sah. Anfangs dachte ich es seien ein paar Lumpen, doch als ich näher kam, erkannte ich, daß es tatsächlich ein Mann war, der dort lag, bärtig, abgerissen, mit geschlossenen Augen und brauner, wettergegerbter Haut. Ein Penner eben, einer wie man sie in jeder größeren Stadt vorfinden kann, nur eben in einer schweinekalten Nacht auf dem Bordstein vor dem Hauseingang zu meiner Wohnung liegend.

Ich war müde und der Gedanke mich mit diesem Menschen befassen zu müssen, missfiel mir sehr. Nach kurzem zögern, stieg ich über den Körper hinweg und schloß die Haustür auf. Ich hätte einfach rein gehen müssen und mein Abend wäre zu Ende gewesen, mit Sicherheit hätte mein Leben einen anderen Verlauf genommen. Doch ich konnte es nicht.

Ich kniete mich neben den Mann nieder und tippte ihm unsanft an die Schulter, als er nicht reagierte, stieß ich ihn fester, doch keine Chance. War er schon tot? Ich mußte nach dem Puls fühlen. Mit aufsteigendem Ekel schob ich meine Finger zwischen die Lumpen, die den Kopf vom Rumpf trennten und vielleicht einmal ein Schal gewesen waren. Sie waren kratzig und warm und ich meinte die Flöhe zu spüren, die sich in dem Moment über meine frisch gecremte, unbefleckte Hand her machten. Meine Finger fanden die Halsschlagader und ich konnte erleichtert feststellen, daß der Typ tatsächlich noch am Leben war.

Ich grübelte was zu tun war. In Ermangelung einer besseren Alternative holte ich weit aus und schlug dem Hobo mit der flachen Hand auf die Stelle, an denen ich unter seinem Bart seine Wangen vermutete. Und tatsächlich, er öffnete seine Augen.
 „Wo… wo… wo…?“, krächzte er leise.
„Sie liegen auf dem Bordstein. Fehlt ihnen was?“, erwiderte ich möglichst deutlich.
„Mir … ist kalt“, bibberte der  Mann unter Kiefern, die langsam vor Kälte zuckten, hervorpressend.
„Scheiße. Ich rufe ihnen einen Krankenwagen.“ Das wollte er nicht, Gott weiß warum. „Aber wenn sie hier draußen bleiben, dann erfrieren sie. Haben sie eine Unterkunft?“

Er versuchte sich zu erheben und schüttelte seinen bärtigen Kopf. Ich reichte ihm meine Hand und zog ihn hoch. Er war nicht sehr schwer. Ein Gerippe in Fetzen, das ich schwer an die Wand lehnte. In meinem Kopf drehten sich die Räder, konnte ich das machen? War der Mann vielleicht gefährlich? Ich versuchte ihn einzuschätzen und wägte meine Chancen für einen Ernstfall ab. Ich steckte meine kalte Hand in die Manteltasche und umklammerte die Geldrolle, die sich dort befand, seitdem ich einmal in einer Tiefgarage in Bedrängnis geraten war – so klischeehaft das klingen mag. Mit der Rolle in der Faust würde die Wucht jedes Schlags vervielfacht und das Brechen der einen oder anderen Nase wäre vorprogrammiert, auch bei einem Angreifer dessen Kräfte meine um ein Vielfaches überstiegen. Nein, dieser arme, frierende Kerl war keine Gefahr. Dennoch war es wohl besser, wenn ich mir bei dieser Sache Hilfe holte; nur um sicher zu sein.

Doch wer war noch wach? Wen konnte ich fragen? Alle Leute, dich ich kannte, waren Leute aus der Redaktion und seit ein paar Stunden im Bett, führten, ihrem einfältigen Leben folgend, ihren einfältigen Alltag aus. Die einzige Person, die mir schließlich nach ernstem Überlegen in den Sinn kam, war der Barkeeper aus der Kneipe, in welche ich hin und wieder mal ging, um dort schweigend an der Bar sitzend, meinen Korn und mein Bier zu trinken. Ich holte das Telefon hervor – natürlich ein Smart Phone, man war ja Journalist – und wählte die Nummer des Barkeepers, die der Bar, nicht die seines Privatanschlusses – so gute Freunde waren wir. Ich ließ es ein paar Mal klingeln, aber niemand ging ran.

Während ich versuchte mich gegen die Möglichkeit einer physischen Gefährdung durch einen erfrierenden Landstreicher abzusichern, sackte dieser immer mehr in sich zusammen und drohte einzuschlafen. Ich war zwar kein Mediziner, aber ich war mir sicher, daß es nicht gut sein konnte, bei der Kälte ins Traumland zu entschwinden. Wenn man den Filmen glauben durfte, war das die Sache, die unbedingt vermieden werden mußte.

Ich packte den Frierenden kurzerhand unter dem Arm, zog ihn erneut auf die Beine – er war unheimlich leicht – öffnete die Haustür und zog ihn in den Flur, dann die Treppe hoch in den ersten Stock, schloß meine Wohnungstür auf, schob mich und den Abgerissenen hindurch, hinein ins Bad und setzte ihn in der Dusche ab. Die Heizung wurde auf fünf hochgedreht und ganz allmählich sollte er wieder auftauen. Derweil holte ich den Sixer, den ich im Flur gelassen hatte, herein, schloß die Wohnungstür und legte meinen Mantel, Mütze, Schal und Handschuhe ab.

Bevor ich in die Küche ging, warf ich noch einen Blick ins Bad. Er hockte wie ein Haufen Elend in der Dusche, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, zitternd und klein. Die Klamotten naß, kalt und abgewetzt, die Haare verfilzt und schmutzig, die Hände um den Körper geschlungen. Er tat mir leid.
In der Küche stellte ich den Sixer in den Kühlschrank und zog mir ein paar Gummihandschuhe an – Darauf bin ich nicht mehr sonderlich stolz. Die Münzrolle steckte in meiner Jeanstasche. Anschließend kehrte ich ins Bad zurück.

Mir schlug ein schrecklicher Geruch entgegen. Der Kerl stank, als hätte er sich noch nie in seinem Leben den Hintern abgewischt. Die Kälte hatte die Dämpfe in Zaum gehalten, doch jetzt breiteten sie sich ungehindert aus. Ich schaltete die Lüftung an und verließ das Bad luftschnappend. In der Küche kramte ich einen blauen Müllsack hervor und kehrte zu meinem Gast zurück.

„Stell dich unter die Dusche. Deine Klamotten steckst du in den Sack“, ich hielt ihm den blauen Müllsack hin, „Ich habe noch ein paar alte Klamotten von meinem Ex hier rumliegen. Die kannst du haben. Dusch dich ausgiebig. Dort ist Duschgel, Shampoo … vielleicht nicht dein Lieblingsduft, aber …“, ich rümpfte die Nase und öffnete den Spiegelschrank: „Hier ist eine Schere und ein alter Einwegrasierer, Rasierschaum. Damit kannst du das Gestrüpp in deinem Gesicht wieder in den Griff bekommen. Wenn du fertig bist, wirf alles in den blauen Sack und knote ihn um Gottes Willen zu.“ Er nickte zitternd. Ich legte ihm noch ein Handtuch raus und verließ das Bad.

Ich setzte Wasser auf und schüttete Kaffee in eine Tasse – ein türkischer Kaffee nach Studentenart, ich hatte ihn ewig nicht so getrunken, etwas erinnerte mich daran. Während das Wasser aufkochte, suchte ich in meinem Kleiderschrank nach den Überresten meines Ex-Freundes, der mich ein paar Wochen zuvor erst betrogen und ich ihn anschließend verlassen hatte. Er würde es nicht gut finden, wenn ich seinen Lieblingspullover, den er seit zwei Jahren nicht mehr trug, einem Typen gab, der ihn brauchen konnte. Aber er würde es verkraften. Er hatte genug Pullover. Neben diesem guten Stück fand ich noch ein T-Shirt, dessen Farbe er nie mochte (schwarz), eine Hose, die er nie getragen hatte (Jeans), Socken, die ihm nicht sportlich genug gewesen waren (Puma), eine Boxershorts, die ich als Schlafhose benutze (meine), einen Schal und Handschuhe, die ein bisschen nach Mädchen aussahen (mit Rüschenbesatz am Saum) und ein Paar Stiefel meines Ex, die schon bessere Tage gesehen hatten (ungeputzt). Ich legte alle Sachen auf einen Stuhl und setzte mich mit meinem aufgegossenen Kaffee an den Küchentisch, nachdem ich die Anlage angeschaltet und eine Platte – Tomte: Eine sonnige Nacht – aufgelegt hatte. 

Es dauerte fast eine Stunde bis sich die Tür des Bades öffnete und ein dürres Männlein ins Wohnzimmer getapst kam. Das Handtuch um die Hüfte geschwungen, stand es da, die Augen umher huschend.
„Ihre neuen Klamotten liegen dort auf dem Sessel. Sie können sich im Schlafzimmer umziehen.“
Er nahm die Sachen in den Arm. „Sie müssen ich nicht siezen“, sagte er.
„Das Schlafzimmer ist hinter der Tür zu deiner Rechten“, erwiderte ich.
Er hatte seinen Bart gestutzt und in Form gebracht. Die nassen Haare waren sorgfälltig zurückgekämmt.
„Wenn du angezogen bist, leg das Handtuch zu deinen alten Klamotten in den blauen Sack. Dann komm in die Küche, ich setz dir einen Kaffee auf. Hast du Hunger?“ Er nickte. „Sicher hast du das.“
Er wandte sich zur Schlafzimmertür unds verschwandt dahinter. Ich legte ein neues Album auf – Tom Waits: Closing Time – und begann in der Küche ein paar belegte Brote zu machen.

Der Rest des Abends verlief unspektakulär. Wir aßen die Brote, tranken den Kaffee, danach fast jeder eine halbe Kanne Tee und schließlich teilten wir uns das Six-Pack. Wir redeten, nach einigen Startschwierigkeiten, die ganze Nacht. Er erzählte aus seinem Leben, daß er studiert, doch anschließend nicht die Kurve bekommen habe. Ich erzählte ihm von meinem Leben, was ich machte, was ich eigentlich machen wollte, erzählte von meiner Frustration und meiner Schreibblockade. Er berichtete vom harten Brot auf der Straße und was er sich erhofft hatte von der Zukunft als er in meinem Alter war.
Als der Morgen graute, tranken wir einen letzten Kaffee, aßen jeder zwei Brötchen und er sagte: „Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Du hast mir mein Leben gerettet.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Wo wirst du jetzt hin gehen?“, fragte ich.
Er wurde still, überlegte, dann meinte er: „Ich besuche meinen Bruder. Ich habe ihn seit 20 Jahren nicht gesehen. Er arbeitet hier in der Stadt.“
Wir tranken aus und verließen die Wohnung. Im Hof warf ich den blauen Müllsack in einen der schwarzen Container – „Nur Hausabfälle“. Auf der Straße drückte ich ihm einen 20er in die Hand. Wir verabschiedeten uns herzlich von einander und gingen unserer Wege.
Es war der 25te Dezember. Ich hatte Schicht in der Redaktion, alleine. Frohe Weihnachten. Am ersten Arbeitstag nach den Feiertagen kündigte ich meinen Job, ich konnte die Lebensweisheit meiner nichts-wissenden Kollegen nicht mehr ertragen.

Vorgestern strich ich durch die Regalreihen eines Plattenladens – Gaslight Anthem: Handwritten – als mir jemand von hinten an die Schulter tippte. Ich drehte mich herum und der Hobbo von einst stand vor mir. Noch immer mit Bart, doch diesmal gut genährt und nicht stinkend. Er erzählte, daß er nach unserem Treffen beschloß sein Leben zu ändern. Er fand die Adresse seines Bruders heraus, fuhr zu ihm und sie führten ein langes Gespräch. Tränen flossen, Entschuldigungen wurden ausgetauscht und Pläne geschmiedet. Mit Anbruch des neuen Jahres war auch er ein neuer Mensch. Durch die Hilfe seines Bruders und einiger wohlwollender Förderer kam er wieder auf die Beine und eröffnete den Plattenladen, in dem ich mich nun befand.
Er bedankte sich und ich bekam meine Platte umsonst, sowie die Zusicherung, daß ich bei ihm nie wieder würde zahlen müssen. Ich lehnte dankend ab. Wir waren schon lange quitt.
Ich verabschiedete mich und ging nach Hause, wo mein Freund bereits die Kerzen am Baum anzündete.

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