Ein unerwarteter Gast
Die ganze Geschichte liegt knappe
drei Jahre zurück. Es war schweinekalt draußen in den Straßen, 10 Grad unter
null nachts. Wenn der Wind einem ins Gesicht blies, fühlte es sich an, als
würde man mit einer kalten Socke voller rostiger Nägel verhauen. Von den
Händen, die vor lauter Kälte fast
abzufallen drohten, sei hier ganz zu schweigen. Ich höre jetzt schon die
Klugscheißer kreischen, das 10 Grad unter null und ein bisschen Wind nichts
seien zu der Nacht vor einem halben Jahr, als sie in Moskau waren, Businesstrip,
Flug erster Klasse, Übernachtung im Hilton, Fortbewegung in dem Leihwagen der
Firma, mit Chauffeur, klar; aber wenn sie dann auf der Straße standen, da
spürten sie die Kälte. Sollen diese Typen doch reden. Ahnung was sie da
erzählen, haben sie ja doch nicht. Ich mußte selbst zwar noch nie bei diesen
Temperaturen auf der Straße übernachten, aber ist das nötig, um ein Urteil über
die Unwirklichkeit einer Sache wie der Lufttemperatur abgeben zu können? Kalt
ist kalt und jegliche Äußerung, daß es noch kälter geht, ist dekadent und zudem
obsolet, denn schlimmer geht immer.
Damals hatte ich einen kleinen
Job in der Redaktion einer Zeitschrift, die über Filme und das sogenannte
Business schrieb (Warum es Business heißt, habe ich nie verstanden.). Ich war
relativ frustriert in diesem Job, er nervte mich. Die Mitarbeiter waren, bis
auf ein paar Ausnahmen, allesamt Idioten, die von wenig eine Ahnung hatten, von
Filmen oder dem Schreiben über etwas schon gar nicht. Sie waren dumpfe
Gestalten, Hüllen von Menschen, die durch ihre Arbeit bei der Zeitung ____
verzweifelt oder irre geworden waren – manchmal auch beides – von dem Verlust
ihrer Moral und Selbstachtung ganz zu schweigen. Kurz: Ich war nicht gerade
inspiriert und dieser Job drohte, daß zu schaffen, was den Sesselpupsern an der
Uni in sieben Jahren nicht gelungen war – ich verlor meinen Drang zum
Schreiben. Mir ging schlicht die Inspiration flöten und ich lief Gefahr ebenso
irre und verzweifelt zu werden wie meine Kollegen.
In diesem desolaten Zustand
wankte ich also eines kalten Winterabends nach Hause. Ich kam von einer 12
Stunden Schicht und die Aussicht am nächsten Tag nach nur knappen 4 ½ Stunden
Schlaf wieder hinter diesem Schreibtisch sitzen zu müssen, erschien mir mehr
als erbärmlich.
Es war zum Heulen.
Ich besorgte mir einen Sixer Bier
in einem Späti und war fast an meiner Haustür – Ich hatte bereits meinen
Schlüssel in der Hand – als ich vor meinem Hauseingang ein zusammengesunkenes
Knäul liegen sah. Anfangs dachte ich es seien ein paar Lumpen, doch als ich
näher kam, erkannte ich, daß es tatsächlich ein Mann war, der dort lag, bärtig,
abgerissen, mit geschlossenen Augen und brauner, wettergegerbter Haut. Ein
Penner eben, einer wie man sie in jeder größeren Stadt vorfinden kann, nur eben
in einer schweinekalten Nacht auf dem Bordstein vor dem Hauseingang zu meiner
Wohnung liegend.
Ich war müde und der Gedanke mich
mit diesem Menschen befassen zu müssen, missfiel mir sehr. Nach kurzem zögern,
stieg ich über den Körper hinweg und schloß die Haustür auf. Ich hätte einfach
rein gehen müssen und mein Abend wäre zu Ende gewesen, mit Sicherheit hätte
mein Leben einen anderen Verlauf genommen. Doch ich konnte es nicht.
Ich kniete mich neben den Mann
nieder und tippte ihm unsanft an die Schulter, als er nicht reagierte, stieß
ich ihn fester, doch keine Chance. War er schon tot? Ich mußte nach dem Puls
fühlen. Mit aufsteigendem Ekel schob ich meine Finger zwischen die Lumpen, die
den Kopf vom Rumpf trennten und vielleicht einmal ein Schal gewesen waren. Sie waren
kratzig und warm und ich meinte die Flöhe zu spüren, die sich in dem Moment
über meine frisch gecremte, unbefleckte Hand her machten. Meine Finger fanden
die Halsschlagader und ich konnte erleichtert feststellen, daß der Typ
tatsächlich noch am Leben war.
Ich grübelte was zu tun war. In
Ermangelung einer besseren Alternative holte ich weit aus und schlug dem Hobo
mit der flachen Hand auf die Stelle, an denen ich unter seinem Bart seine
Wangen vermutete. Und tatsächlich, er öffnete seine Augen.
„Wo… wo… wo…?“, krächzte er
leise.
„Sie liegen auf dem Bordstein.
Fehlt ihnen was?“, erwiderte ich möglichst deutlich.
„Mir … ist kalt“, bibberte
der Mann unter Kiefern, die langsam vor
Kälte zuckten, hervorpressend.
„Scheiße. Ich rufe ihnen einen
Krankenwagen.“ Das wollte er nicht, Gott weiß warum. „Aber wenn sie hier
draußen bleiben, dann erfrieren sie. Haben sie eine Unterkunft?“
Er versuchte sich zu erheben und
schüttelte seinen bärtigen Kopf. Ich reichte ihm meine Hand und zog ihn hoch.
Er war nicht sehr schwer. Ein Gerippe in Fetzen, das ich schwer an die Wand
lehnte. In meinem Kopf drehten sich die Räder, konnte ich das machen? War der
Mann vielleicht gefährlich? Ich versuchte ihn einzuschätzen und wägte meine
Chancen für einen Ernstfall ab. Ich steckte meine kalte Hand in die
Manteltasche und umklammerte die Geldrolle, die sich dort befand, seitdem ich
einmal in einer Tiefgarage in Bedrängnis geraten war – so klischeehaft das
klingen mag. Mit der Rolle in der Faust würde die Wucht jedes Schlags vervielfacht
und das Brechen der einen oder anderen Nase wäre vorprogrammiert, auch bei
einem Angreifer dessen Kräfte meine um ein Vielfaches überstiegen. Nein, dieser
arme, frierende Kerl war keine Gefahr. Dennoch war es wohl besser, wenn ich mir
bei dieser Sache Hilfe holte; nur um sicher zu sein.
Doch wer war noch wach? Wen
konnte ich fragen? Alle Leute, dich ich kannte, waren Leute aus der Redaktion
und seit ein paar Stunden im Bett, führten, ihrem einfältigen Leben folgend,
ihren einfältigen Alltag aus. Die einzige Person, die mir schließlich nach
ernstem Überlegen in den Sinn kam, war der Barkeeper aus der Kneipe, in welche
ich hin und wieder mal ging, um dort schweigend an der Bar sitzend, meinen Korn
und mein Bier zu trinken. Ich holte das Telefon hervor – natürlich ein Smart
Phone, man war ja Journalist – und wählte die Nummer des Barkeepers, die der
Bar, nicht die seines Privatanschlusses – so gute Freunde waren wir. Ich ließ
es ein paar Mal klingeln, aber niemand ging ran.
Während ich versuchte mich gegen
die Möglichkeit einer physischen Gefährdung durch einen erfrierenden
Landstreicher abzusichern, sackte dieser immer mehr in sich zusammen und drohte
einzuschlafen. Ich war zwar kein Mediziner, aber ich war mir sicher, daß es
nicht gut sein konnte, bei der Kälte ins Traumland zu entschwinden. Wenn man
den Filmen glauben durfte, war das die Sache, die unbedingt vermieden werden
mußte.
Ich packte den Frierenden
kurzerhand unter dem Arm, zog ihn erneut auf die Beine – er war unheimlich
leicht – öffnete die Haustür und zog ihn in den Flur, dann die Treppe hoch in
den ersten Stock, schloß meine Wohnungstür auf, schob mich und den Abgerissenen
hindurch, hinein ins Bad und setzte ihn in der Dusche ab. Die Heizung wurde auf
fünf hochgedreht und ganz allmählich sollte er wieder auftauen. Derweil holte
ich den Sixer, den ich im Flur gelassen hatte, herein, schloß die Wohnungstür
und legte meinen Mantel, Mütze, Schal und Handschuhe ab.
Bevor ich in die Küche ging, warf
ich noch einen Blick ins Bad. Er hockte wie ein Haufen Elend in der Dusche, den
Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, zitternd und klein. Die
Klamotten naß, kalt und abgewetzt, die Haare verfilzt und schmutzig, die Hände
um den Körper geschlungen. Er tat mir leid.
In der Küche stellte ich den Sixer
in den Kühlschrank und zog mir ein paar Gummihandschuhe an – Darauf bin ich
nicht mehr sonderlich stolz. Die Münzrolle steckte in meiner Jeanstasche.
Anschließend kehrte ich ins Bad zurück.
Mir schlug ein schrecklicher
Geruch entgegen. Der Kerl stank, als hätte er sich noch nie in seinem Leben den
Hintern abgewischt. Die Kälte hatte die Dämpfe in Zaum gehalten, doch jetzt
breiteten sie sich ungehindert aus. Ich schaltete die Lüftung an und verließ
das Bad luftschnappend. In der Küche kramte ich einen blauen Müllsack hervor
und kehrte zu meinem Gast zurück.
„Stell dich unter die Dusche.
Deine Klamotten steckst du in den Sack“, ich hielt ihm den blauen Müllsack hin,
„Ich habe noch ein paar alte Klamotten von meinem Ex hier rumliegen. Die kannst
du haben. Dusch dich ausgiebig. Dort ist Duschgel, Shampoo … vielleicht nicht
dein Lieblingsduft, aber …“, ich rümpfte die Nase und öffnete den
Spiegelschrank: „Hier ist eine Schere und ein alter Einwegrasierer,
Rasierschaum. Damit kannst du das Gestrüpp in deinem Gesicht wieder in den
Griff bekommen. Wenn du fertig bist, wirf alles in den blauen Sack und knote
ihn um Gottes Willen zu.“ Er nickte zitternd. Ich legte ihm noch ein Handtuch
raus und verließ das Bad.
Ich setzte Wasser auf und
schüttete Kaffee in eine Tasse – ein türkischer Kaffee nach Studentenart, ich
hatte ihn ewig nicht so getrunken, etwas erinnerte mich daran. Während das
Wasser aufkochte, suchte ich in meinem Kleiderschrank nach den Überresten
meines Ex-Freundes, der mich ein paar Wochen zuvor erst betrogen und ich ihn
anschließend verlassen hatte. Er würde es nicht gut finden, wenn ich seinen
Lieblingspullover, den er seit zwei Jahren nicht mehr trug, einem Typen gab,
der ihn brauchen konnte. Aber er würde es verkraften. Er hatte genug Pullover.
Neben diesem guten Stück fand ich noch ein T-Shirt, dessen Farbe er nie mochte
(schwarz), eine Hose, die er nie getragen hatte (Jeans), Socken, die ihm nicht
sportlich genug gewesen waren (Puma), eine Boxershorts, die ich als Schlafhose
benutze (meine), einen Schal und Handschuhe, die ein bisschen nach Mädchen
aussahen (mit Rüschenbesatz am Saum) und ein Paar Stiefel meines Ex, die schon
bessere Tage gesehen hatten (ungeputzt). Ich legte alle Sachen auf einen Stuhl
und setzte mich mit meinem aufgegossenen Kaffee an den Küchentisch, nachdem ich
die Anlage angeschaltet und eine Platte – Tomte: Eine sonnige Nacht – aufgelegt
hatte.
Es dauerte fast eine Stunde bis
sich die Tür des Bades öffnete und ein dürres Männlein ins Wohnzimmer getapst
kam. Das Handtuch um die Hüfte geschwungen, stand es da, die Augen umher
huschend.
„Ihre neuen Klamotten liegen dort
auf dem Sessel. Sie können sich im Schlafzimmer umziehen.“
Er nahm die Sachen in den Arm.
„Sie müssen ich nicht siezen“, sagte er.
„Das Schlafzimmer ist hinter der Tür
zu deiner Rechten“, erwiderte ich.
Er hatte seinen Bart gestutzt und
in Form gebracht. Die nassen Haare waren sorgfälltig zurückgekämmt.
„Wenn du angezogen bist, leg das
Handtuch zu deinen alten Klamotten in den blauen Sack. Dann komm in die Küche,
ich setz dir einen Kaffee auf. Hast du Hunger?“ Er nickte. „Sicher hast du
das.“
Er wandte sich zur
Schlafzimmertür unds verschwandt dahinter. Ich legte ein neues Album auf – Tom
Waits: Closing Time – und begann in der Küche ein paar belegte Brote zu machen.
Der Rest des Abends verlief
unspektakulär. Wir aßen die Brote, tranken den Kaffee, danach fast jeder eine
halbe Kanne Tee und schließlich teilten wir uns das Six-Pack. Wir redeten, nach
einigen Startschwierigkeiten, die ganze Nacht. Er erzählte aus seinem Leben,
daß er studiert, doch anschließend nicht die Kurve bekommen habe. Ich erzählte
ihm von meinem Leben, was ich machte, was ich eigentlich machen wollte,
erzählte von meiner Frustration und meiner Schreibblockade. Er berichtete vom
harten Brot auf der Straße und was er sich erhofft hatte von der Zukunft als er
in meinem Alter war.
Als der Morgen graute, tranken
wir einen letzten Kaffee, aßen jeder zwei Brötchen und er sagte: „Ich weiß
nicht, wie ich dir danken soll. Du hast mir mein Leben gerettet.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Wo wirst du jetzt hin gehen?“,
fragte ich.
Er wurde still, überlegte, dann
meinte er: „Ich besuche meinen Bruder. Ich habe ihn seit 20 Jahren nicht
gesehen. Er arbeitet hier in der Stadt.“
Wir tranken aus und verließen die
Wohnung. Im Hof warf ich den blauen Müllsack in einen der schwarzen Container –
„Nur Hausabfälle“. Auf der Straße drückte ich ihm einen 20er in die Hand. Wir
verabschiedeten uns herzlich von einander und gingen unserer Wege.
Es war der 25te Dezember. Ich
hatte Schicht in der Redaktion, alleine. Frohe Weihnachten. Am ersten
Arbeitstag nach den Feiertagen kündigte ich meinen Job, ich konnte die
Lebensweisheit meiner nichts-wissenden Kollegen nicht mehr ertragen.
Vorgestern strich ich durch die
Regalreihen eines Plattenladens – Gaslight Anthem: Handwritten – als mir jemand
von hinten an die Schulter tippte. Ich drehte mich herum und der Hobbo von
einst stand vor mir. Noch immer mit Bart, doch diesmal gut genährt und nicht
stinkend. Er erzählte, daß er nach unserem Treffen beschloß sein Leben zu
ändern. Er fand die Adresse seines Bruders heraus, fuhr zu ihm und sie führten
ein langes Gespräch. Tränen flossen, Entschuldigungen wurden ausgetauscht und
Pläne geschmiedet. Mit Anbruch des neuen Jahres war auch er ein neuer Mensch. Durch
die Hilfe seines Bruders und einiger wohlwollender Förderer kam er wieder auf
die Beine und eröffnete den Plattenladen, in dem ich mich nun befand.
Er bedankte sich und ich bekam
meine Platte umsonst, sowie die Zusicherung, daß ich bei ihm nie wieder würde
zahlen müssen. Ich lehnte dankend ab. Wir waren schon lange quitt.
Ich verabschiedete mich und ging
nach Hause, wo mein Freund bereits die Kerzen am Baum anzündete.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen