Am Anfang



"Am Anfang" a short story by Wolf-Peter Arand
 „… schuf Gott Himmel und Erde – und die Rolltreppen, um beide mit einander zu verbinden“, sagte die Großmutter zu ihrem kleinen Enkel, der sie mit großen Augen anblickte. Es müsse eine Verbindung zwischen den himmlischen Höhen und den infernalen Tiefen geben. Die alte Dame legte eine bedächtige Kunstpause ein und drehte nachdenklich den Ehering an ihrem Finger. Schließlich fuhr sie fort: „Jeder Mensch muss diese Rolltreppen benutzen, aber jene die sich nicht die Schuhe zubinden, werden sie nie wieder verlassen und stattdessen am Ende von ihr verschluckt.“
Der Kleine zog seine noch so junge Stirn kraus: „Du flunkerst.“
 Die Alte schwenkte den bernsteinfarbenen Inhalt ihres Glases, dessen Geruch beißend-herb in der Nase des Kleinen stach. Er hatte sie schon oft dabei beobachtet, wie sie mit ihren faltigen, sanften Händen, die stets leicht zitterten und so sehr viel weiser als die seinen wirkten, das Schränkchen im Wohnzimmer aufschloss und sich dort eine kristallene Flasche heraus nahm, deren Inhalt im Schein der durch das Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen so wunderschön glänzte. Den Schlüssel für das Schränkchen trug die Großmutter an einer kleinen Kette um ihren Hals.
 „Ich flunkere nie!“, erwiderte sie schließlich und blickte den Jungen mit einer Entrüstung an, von der er nicht sagen konnte, ob sie echt oder gespielt war.
 „Du glaubst mir also nicht?“ Der Kleine schüttelte betreten den Kopf. „Nun, du kennst doch den alten M.?“
 Ja, den kannte er, den kannte jeder. Die Kinder im Dorf fürchteten ihn sehr und allerlei Geschichten waren über ihn im Umlauf. Er besaß nur noch ein Bein und hatte eine große Narbe auf dem Gesicht, die sich von der linken Augenbraue in der Form eines Halbmondes bis zum Kinn zog. Es hieß unter den Kindern, der Alte sei ein räuberischer Pirat, der sich im Dorf vor der Polizei verstecken würde. Der Enkel hatte den alten M. schon das ein oder andere Mal mit der Großmutter am Zaun stehen und sprechen gesehen. Jedes Mal hatte sich der Junge flugs ins Haus verzogen und dort gewartet bis der Einbeinige seiner Wege gezogen war. Er bewunderte seine Großmutter, dass sie einen solchen Mut aufbringen konnte mit dem abgerissenen Piraten zu reden und gab damit gerne vor seinen Freunden an.
 „Siehst du, der alte M. hat nur ein Bein, weil er, so wie du, nicht daran glaubte, dass die Rolltreppen Himmel und Hölle verbinden. Als er noch ein junger Mann war, zogen M. und seine Freunde aus in die große Stadt. Sie wollten etwas von der Welt sehen, das will jeder, wenn er jung ist. M. hatte sich stets seine Schnürsenkel zu binden. Hier in unserm Dorf ist das vielleicht nicht weiter schlimm; hier gibt es keine Rolltreppen. In der großen Stadt aber, gibt es unzählige davon. Einige Leute warnten M., er solle nicht so leichtfertig sein und die Schuhe stets gebunden halten, andernfalls könnte sich ein Schnürsenkel in den gerillten Trittstufen verfangen und er würde mit Haut und Haar von der Rolltreppe verschlungen.“
 Die Großmutter nahm einen Schluck aus dem Glas in ihrer Hand und ein Schaudern durchfuhr den alten Körper. Ihr Blick glitt zum Fenster; draußen war es bereits dunkel und das verschwommene Gesicht einer alten Frau schaute ihr aus grauschattigen Augen entgegen. Ganz sanft pfiff der Herbstwind um die Ecken des kleinen Hauses und rauschte in den laublosen Wipfeln der Eschen, deren Zweige leise an die Fensterscheiben klopften. Gespenstische, knöcherne Finger, die von lange Vergangenem, fallendem Regen und kommender Kälte berichteten. Die Alte mochte den Herbst nicht. Sie seufzte leise, wandte den Kopf ihrem Enkel zu und fuhr mit ernster Miene fort: „Es ist eine Wette zwischen Gott und dem Teufel um deine ewige Seele. Jene, die sich nicht als würdig erweisen, erwarten und ewige Qualen im feurige Schlund der alles verzehrenden Höllenfeuer.“
 Hier unterbrach der Junge seine Großmutter. Mit zitterndem Stimmchen fragte er: „Aber ich dachte, dass Gott die Menschen liebe und das wir in den Himmel kommen, wenn wir sterben. Mama sagte das immer.“
 Die Großmutter drehte von neuem an ihrem Ring: „Ja, deine Mama bestimmt. Manche Menschen liebt Er eben mehr als andere. Manche stellt Er vor Prüfungen, um ihren Glauben zu testen, oder sie zu bestrafen.“
 Das Scheppern, mit dem die leicht verzogene Haustür aufflog, hallte vom Flur ins Wohnzimmer. Die schwere Stimme des Großvaters rief: „Ich bin zu Hause.“ Ein Rumpeln und Ächzen ertönte und dumpfe Stiefelschritte schlurften auf dem Dielenboden. Dann wurde die Wohnzimmertür geöffnet und die hochgewachsene Gestalt des Großvaters stand im Zimmer. Der kleine Junge erhob von seinem Sitz und trat schüchtern auf den Mann zu, der ihm kurz den Kopf tätschelte und ihn dann beiseite schob. Er wandte sich an seine Frau: „Was macht ihr hier?“
 „Oma erzählt mir eine Geschichte über Gott und den Teufel.“, sagte der Kleine. Ein wohl vertrauter, unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Er mochte es nicht, wenn der Großvater so roch. Er schaute dann immer so eigenartig und begann sehr laut zu reden. Der Junge trat einen Schritt zurück und starrte unter den funkelnden Augen des alten Mannes betreten zu Boden. Der Alte blickte auf das Kind hinab und brummte ein vielsagendes „So, so.“ An seine Frau gewandt knurrte er: „Ist das Essen fertig?“
 Sie stellte ihr Glas ab, seufzte und hievte sich aus dem Sessel: „Ja, es steht in der Küche. Setzt dich ich hol ’s dir.“
 Der Alte ließ sich auf den Sessel fallen und schlug die bestiefelten Füße übereinander. Mit den großen, groben Händen griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Die Großmutter kam mit einem Teller zurück, von dem es wohlriechend dampfte. Sie richtete ihrem Ehemann das Essen an und wandte sich dann zum gehen.
 „Wo willst du hin?“, fuhr sie der Großvater an.
 „In die Küche, abwaschen.“
 „Setzt dich gefälligst und warte bis ich fertig bin.“
 Gehorsam machte die Frau kehrt und setzte sich auf die Couch nieder. Dort warteten der Kleine und die Alte schweigend, während der Großvater auf den Fernsehbildschirm starrte und schnaufend sein Mahl verschlang. Als er fertig war, stieß er kurz auf, stellte den Teller ab und sagte: „Ich gehe noch in den Schlöpendriewer.“
 Mit diesen Worten erhob er sich, tätschelte erneut den Kopf des Enkels und verschwand aus dem Haus. Die Großmutter erhob sich ebenfalls. Sie seufzte und ging zu dem kleinen Schränkchen mit der kristallenen Flaschen, aus welcher sie sich mehr Bernsteinwasser in ihr Glas nachschenkte. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Sessel.
 „Wolltest du nicht abwaschen?“, fragte der Enkel.
 „Ach, das hat Zeit.“, erwiderte die Alte.
 „Mama hat immer gesagt, dass man die Dinge die man machen muss, am Besten gleich macht.“
 „Nun, dann muss unsere Geschichte doch erst beendet werden, bevor ich abwaschen kann, oder?“
 Der Kleine schien über diesen Einwand angestrengt nachzudenken. Schließlich nickte er zustimmend und grinste.
 „Fein“, sagte die Alte, „Also, wo waren wir? Bei der Wette: Es verhielt sich nun so, dass der Teufel um die Schwäche Gottes wusste und so schlug er Ihm eine Wette vor. Alle Menschen die ihre Schuhe nicht binden wollten, würden von den Rolltreppen verschlungen und ihre Seelen zur Hölle fahren. Gott überlegte nicht lange. Es wäre eine gute Möglichkeit, um die Festigkeit des Glaubens der Menschen zu prüfen und so willigte Er in den Deal ein.“
 Die Eschenzweige kratzten verschwörerisch am Fenster. Die Alte nippte am Inhalt ihres Glases, dann fuhr sie leise, fast flüsternd fort: „M. und seine Freunde wussten um all dies. Sie hatten die Warnung gehört aber stiegen dennoch stets mit offenen Schnürsenkeln auf die Treppe. So kam es, wie es kommen musste. Eines Tages blieben sie alle samt in den Stufen hängen und wurden verschlungen. Da reute es M. sehr und er betete zu Gott, dass er es nie wieder tun wolle. Da Gott gnädig war und M. zutiefst bereute, durfte er weiter leben und seine ewige Seele behalten. Doch der sündige Sterbliche wurde markiert mit der Narbe im Gesicht, damit er seine Tat niemals leugnen könne. Einzig, weil der Teufel ein Lügner ist und mit der Gnade Gottes nicht einverstanden war, nahm er M.’s Bein als Pfand und Gott konnte nichts dagegen tun, denn es stand ihm zu. Seither bemüht sich M. jeden Tag sehr, ein gefälliges Leben zu führen und ein guter Christ zu sein.“
 Mit großen Augen fragte der kleine Junge, der sich auf seinem Platz zusammengerollt hatte: „Also, ist er gar kein böser Pirat?“
 Die Alte lächelte sanft: „Nein. Und seitdem bindet er sich auch stets seine Schnürsenkel.“
Mit diesen Worten drehte sie das kleine metallene Bändchen an ihrem Ringfinger und leerte ihr Glas in einem letzten Zug. Sie erhob sich, ging in die Küche, legte den Ehering auf den Küchentisch und ließ das Wasser für den Abwasch ein.

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