Marlen
Das Radio quäkt seine alltäglichen
Horrormeldungen durch die Lautsprecher. Vergewaltiger, Terroristen, Kriminelle.
Vorsicht vor überall aufplatzenden Eiterbeulen, die ständig darauf bedacht sind,
sich selbst abzuschaffen, heißt es. Dann plärren Tocotronic: „Mach es nicht
selbst“. Als ich den Song das erste Mal hörte, empfand ich ihn als Affront, als
Beleidigung für alle, die aus der DIY-Kultur kamen. Dann begriff ich, dass sich
eine Band wie die Tocos mit einer solchen Aussage selbst denunzieren und in
eben jenem Moment sah ich die Ironie. Das sind die guten Songs, die sich nicht
unmittelbar öffnen, sondern ihre Doppelbödigkeit verbergen.
„Was du auch selber machst, macht schließlich dumm, ausgenommen Selbstbefriedigung.“
Ich beende mein Frühstück, trinke meinen Kaffee und ziehe meine Schuhe an. Raus, zur Arbeit, Alltag. Meine Augen sind noch müde. Sie bleiben es und nach dem Tag kommt der Abend, dann das Wochenende. Um 1800 öffnen sich die Tore des Bürofabrikgebäudes und sie strömen alle auf die Straße, nach Hause in die Bars und in die vielgestalteten Facetten des Vergessens. Das wirkliche Leben ist auf wenige Stunden in der Woche beschränkt und den Großteil der Zeit verbringen wir mit dem Warten darauf. Jedenfalls manche. Die Mehrheit hat sich arrangiert und handelt in Akzeptanz. Jene misstrauisch beäugend, die es ihnen nicht gleichtun. Doch „sich fügen, heißt lügen“, oder?
Ich trinke mit meinem Freund Korn und Sprite und gehe mit ihm zu einer Tanzperformance. Beeindruckend ist es, was diese Menschen vermögen. Sie wirbeln herum, jeder Muskel ihrer Körper arbeitet, in ständiger An- und Entspannung, die eigenen Schatten jagend, die das Licht der Scheinwerfer an die backsteinernen Wände projiziert. Es gibt Brüste und Penisse, Rücken und Bäuche, Hände, Füße, Hintern und Fotzen. Es ist berauschend und trägt mich für eine Dreiviertelstunde. Das Thema ist trivial in seiner Vermittlung, erstreckt sich über Feminismus, Emanzipation und Unterdrückung der Geschlechter. Dann endet der erste Teil und Männer und Frauen sollen sich separieren. Frauen unter sich, Männer ebenso.
Alle folgen. Alle machen mit. Lassen sich auf das Kommando der Dompteure hin trennen und wieder zusammenführen, hörig den Tanzenden. Nur einer kämpft mit seinem Hut, setzt ihn auf und wartet lieber draußen vor der Tür als mitzuspielen. Wartet dort auf seine Freunde und fügt sich nicht. Später frage ich ihn, warum. Er sagt, dass Separation immer zum Absterben des Verstehens führe. Dass es nicht mit dem vereinbar sei, was ihm sein Gewissen wissen ließe. Aber es sei doch Kunst. Er hätte nichts verstanden. Alle hätten mitgespielt und er würde sich doch separieren und des Diskurses und der Verständigung verschließen. Es sei doch arg engstirnig und er sehe das alles doch viel zu verbohrt. Er nickt und bleibt dennoch lieber draußen. Niemand scheint zu verstehen und sie beäugen ihn misstrauisch. Manche lächeln, andere rümpfen die Nase, wenden sich ab. Einige wenige senken ihre Köpfe. Die meisten interessiert es nicht. Er wartet und nippt an seinem Bier.
Mein Freund und ich verlassen den Tatort und treiben durch die Nacht, die nicht enden soll, weil sie uns trägt und die Schutzpatronin der Freien ist. Wir trinken Bier und tanzen albern auf der Straße herum, auf der niemand sonst geht. Alle sind zu Hause. Über einem Späti öffnet sich ein Fenster und eine wunderschöne Frau brüllt uns an, dass wir unsere verdammten Fressen halten sollen. Wir kichern und gackern wie ein paar kleine Schuljungen und verschwinden johlend in der nächsten Tram. Hier tanzen die Menschen, sind ausgelassen und betrunken, so wie wir, die wir mit ihnen die Schienen hinuntertreiben.
Am anderen Ende der Stadt werden wir wieder ausgespuckt und besorgen uns die nächsten Biere. „Jazz, Jazz, Jazz!“, brüllen wir und sehen Shakespeare, der in einer Ecke Miss Piggy küsst. Ist das noch real? „Psychoreal“, sagt mein Freund. Wohl eher nicht, aber es ist scheißegal. „Eskapismus“, sagt mein Freund neben mir, nichts anderes sei das. „Anlauf, Alter! Anlauf!“, erwidere ich. Wir flüchten uns in einen Hausflur und finden uns auf einer Party wieder. Wie sind wir hierhergekommen? Wer wohnt hier? Leute, überall, fremde Gesichter und sie alle reden, rückwärts, seitwärts, Rauch durch ihre Nüstern blasend. Ich suche das Klo und stolpere durch eine Tür.
Als ich fertig bin, fällt mir das Paar auf dem Bett auf, bei dem es gerade so richtig zur Sache geht. Er hat bereits seine Hosen unten und offenbart unter seinen weißen Speedos seine ganze Pracht. Das Leute sowas noch tragen. Mit beiden Händen versucht er krampfhaft, den Verschluss ihres BHs zu lösen, doch ist dabei weniger als erfolglos. Ich schiebe ihn zur Seite und zeige ihm, wie es geht. Es kostet mich zwei Sekunden. Er gafft erst, dann blafft er unverständliches Zeug. Ich schüttle seinem Penis zum Abschied die Hand und realisiere erst auf der Türschwelle, dass es vielleicht gar nicht das Bad war, in dem ich mich hier befand.
Auf dem Flur steht der Qualm in Reihe und Glied und ich sehe Shakespeare von der Straße, der das kleine Miss Piggy Schweinchen wie einen rosa Morgenstern umherschleudert. Ich brülle ihn an, dass es doch Tierquälerei sei. Er hört mich nicht. Der Flur beginnt zu rutschen und der Typ von der Tanzperformance steht plötzlich vor mir. Er hat eine der Tänzerinnen im Arm. Daher wissen wir also von der Party, denke ich und schaue mich suchend um. Der Typ mit seiner Tänzerin lächelt mich an und zwinkert. Wie ich seine Party fände und ob ich mich amüsiert hätte bei dem Stück, fragt er mich. Sei doch vorhin eine tolle Show gewesen, oder? Ich bin wie vor den Kopf gestoßen und weiß nichts zu antworten. „Darf ich dir meine Frau vorstellen?“ Und der Widerstand, die Separation? „Das ist doch Theater, Mann. Kunst!“ Sich fügen, heißt lügen, denke ich noch und kotze ihm und seiner Tänzerfrau auf den teuren Altberliner Dielenboden.
„Judas!“, schreit jemand und ich antworte nur: „I don’t believe you!“, und, „You’re a liar.“ Stolpere zur Stereoanlage und drehe die Lautstärke bis zum Anschlag. „Play it fucking loud!“, brülle ich dabei und springe umher, wie ein aufgebrachter Fetttropfen in einer Pfanne. „Sich fügen, heißt lügen“, kreische ich und, „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst!“
Irgendwann packt mich jemand und bugsiert mich aus der Wohnung. Auf dem Flur klaue ich Shakespeare seine goldene Pappkrone und winke dem Pärchen aus dem Klo augenzwinkernd zu. Draußen finde ich meinen Freund auf dem Bordstein zwischen zwei hübschen Mädels sitzend. Ich stolpere hinzu. „Auf zur Brücke und den Sonnenaufgang ansehen!“ Auf dem Weg besorgen wir uns noch ein Bier und dann sitzen wir da, schauen der Sonne zu, wie sie hinter dem Horizont hervorkriecht.
Ich summe vor mich hin: „And we sing with our heroes 33 rounds per minute. We’re never going home ‘till the sun says it’s finished. I’d love you forever, if I ever love at all. Wild hearts, blues jeans and white t-shirts.” Ich summe alleine, das Bier in der Hand, mein bester Freund in meinem Arm. Sie heißt Marlen und sie ist wunderbar.
„Was du auch selber machst, macht schließlich dumm, ausgenommen Selbstbefriedigung.“
Ich beende mein Frühstück, trinke meinen Kaffee und ziehe meine Schuhe an. Raus, zur Arbeit, Alltag. Meine Augen sind noch müde. Sie bleiben es und nach dem Tag kommt der Abend, dann das Wochenende. Um 1800 öffnen sich die Tore des Bürofabrikgebäudes und sie strömen alle auf die Straße, nach Hause in die Bars und in die vielgestalteten Facetten des Vergessens. Das wirkliche Leben ist auf wenige Stunden in der Woche beschränkt und den Großteil der Zeit verbringen wir mit dem Warten darauf. Jedenfalls manche. Die Mehrheit hat sich arrangiert und handelt in Akzeptanz. Jene misstrauisch beäugend, die es ihnen nicht gleichtun. Doch „sich fügen, heißt lügen“, oder?
Ich trinke mit meinem Freund Korn und Sprite und gehe mit ihm zu einer Tanzperformance. Beeindruckend ist es, was diese Menschen vermögen. Sie wirbeln herum, jeder Muskel ihrer Körper arbeitet, in ständiger An- und Entspannung, die eigenen Schatten jagend, die das Licht der Scheinwerfer an die backsteinernen Wände projiziert. Es gibt Brüste und Penisse, Rücken und Bäuche, Hände, Füße, Hintern und Fotzen. Es ist berauschend und trägt mich für eine Dreiviertelstunde. Das Thema ist trivial in seiner Vermittlung, erstreckt sich über Feminismus, Emanzipation und Unterdrückung der Geschlechter. Dann endet der erste Teil und Männer und Frauen sollen sich separieren. Frauen unter sich, Männer ebenso.
Alle folgen. Alle machen mit. Lassen sich auf das Kommando der Dompteure hin trennen und wieder zusammenführen, hörig den Tanzenden. Nur einer kämpft mit seinem Hut, setzt ihn auf und wartet lieber draußen vor der Tür als mitzuspielen. Wartet dort auf seine Freunde und fügt sich nicht. Später frage ich ihn, warum. Er sagt, dass Separation immer zum Absterben des Verstehens führe. Dass es nicht mit dem vereinbar sei, was ihm sein Gewissen wissen ließe. Aber es sei doch Kunst. Er hätte nichts verstanden. Alle hätten mitgespielt und er würde sich doch separieren und des Diskurses und der Verständigung verschließen. Es sei doch arg engstirnig und er sehe das alles doch viel zu verbohrt. Er nickt und bleibt dennoch lieber draußen. Niemand scheint zu verstehen und sie beäugen ihn misstrauisch. Manche lächeln, andere rümpfen die Nase, wenden sich ab. Einige wenige senken ihre Köpfe. Die meisten interessiert es nicht. Er wartet und nippt an seinem Bier.
Mein Freund und ich verlassen den Tatort und treiben durch die Nacht, die nicht enden soll, weil sie uns trägt und die Schutzpatronin der Freien ist. Wir trinken Bier und tanzen albern auf der Straße herum, auf der niemand sonst geht. Alle sind zu Hause. Über einem Späti öffnet sich ein Fenster und eine wunderschöne Frau brüllt uns an, dass wir unsere verdammten Fressen halten sollen. Wir kichern und gackern wie ein paar kleine Schuljungen und verschwinden johlend in der nächsten Tram. Hier tanzen die Menschen, sind ausgelassen und betrunken, so wie wir, die wir mit ihnen die Schienen hinuntertreiben.
Am anderen Ende der Stadt werden wir wieder ausgespuckt und besorgen uns die nächsten Biere. „Jazz, Jazz, Jazz!“, brüllen wir und sehen Shakespeare, der in einer Ecke Miss Piggy küsst. Ist das noch real? „Psychoreal“, sagt mein Freund. Wohl eher nicht, aber es ist scheißegal. „Eskapismus“, sagt mein Freund neben mir, nichts anderes sei das. „Anlauf, Alter! Anlauf!“, erwidere ich. Wir flüchten uns in einen Hausflur und finden uns auf einer Party wieder. Wie sind wir hierhergekommen? Wer wohnt hier? Leute, überall, fremde Gesichter und sie alle reden, rückwärts, seitwärts, Rauch durch ihre Nüstern blasend. Ich suche das Klo und stolpere durch eine Tür.
Als ich fertig bin, fällt mir das Paar auf dem Bett auf, bei dem es gerade so richtig zur Sache geht. Er hat bereits seine Hosen unten und offenbart unter seinen weißen Speedos seine ganze Pracht. Das Leute sowas noch tragen. Mit beiden Händen versucht er krampfhaft, den Verschluss ihres BHs zu lösen, doch ist dabei weniger als erfolglos. Ich schiebe ihn zur Seite und zeige ihm, wie es geht. Es kostet mich zwei Sekunden. Er gafft erst, dann blafft er unverständliches Zeug. Ich schüttle seinem Penis zum Abschied die Hand und realisiere erst auf der Türschwelle, dass es vielleicht gar nicht das Bad war, in dem ich mich hier befand.
Auf dem Flur steht der Qualm in Reihe und Glied und ich sehe Shakespeare von der Straße, der das kleine Miss Piggy Schweinchen wie einen rosa Morgenstern umherschleudert. Ich brülle ihn an, dass es doch Tierquälerei sei. Er hört mich nicht. Der Flur beginnt zu rutschen und der Typ von der Tanzperformance steht plötzlich vor mir. Er hat eine der Tänzerinnen im Arm. Daher wissen wir also von der Party, denke ich und schaue mich suchend um. Der Typ mit seiner Tänzerin lächelt mich an und zwinkert. Wie ich seine Party fände und ob ich mich amüsiert hätte bei dem Stück, fragt er mich. Sei doch vorhin eine tolle Show gewesen, oder? Ich bin wie vor den Kopf gestoßen und weiß nichts zu antworten. „Darf ich dir meine Frau vorstellen?“ Und der Widerstand, die Separation? „Das ist doch Theater, Mann. Kunst!“ Sich fügen, heißt lügen, denke ich noch und kotze ihm und seiner Tänzerfrau auf den teuren Altberliner Dielenboden.
„Judas!“, schreit jemand und ich antworte nur: „I don’t believe you!“, und, „You’re a liar.“ Stolpere zur Stereoanlage und drehe die Lautstärke bis zum Anschlag. „Play it fucking loud!“, brülle ich dabei und springe umher, wie ein aufgebrachter Fetttropfen in einer Pfanne. „Sich fügen, heißt lügen“, kreische ich und, „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst!“
Irgendwann packt mich jemand und bugsiert mich aus der Wohnung. Auf dem Flur klaue ich Shakespeare seine goldene Pappkrone und winke dem Pärchen aus dem Klo augenzwinkernd zu. Draußen finde ich meinen Freund auf dem Bordstein zwischen zwei hübschen Mädels sitzend. Ich stolpere hinzu. „Auf zur Brücke und den Sonnenaufgang ansehen!“ Auf dem Weg besorgen wir uns noch ein Bier und dann sitzen wir da, schauen der Sonne zu, wie sie hinter dem Horizont hervorkriecht.
Ich summe vor mich hin: „And we sing with our heroes 33 rounds per minute. We’re never going home ‘till the sun says it’s finished. I’d love you forever, if I ever love at all. Wild hearts, blues jeans and white t-shirts.” Ich summe alleine, das Bier in der Hand, mein bester Freund in meinem Arm. Sie heißt Marlen und sie ist wunderbar.
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