Paulsen, Frottie und ich

"Paulsen, Frottie & ich" a short story by Wolf-Peter Arand
Die Bar ist klein, kaum größer als meine 1-Zimmer-40m²-Wohnung und auch nicht wesentlich sauberer. Die Wände sind behangen mit Bilderrahmen, Urkunden von gewonnen Kegelwettbewerben, 200 Jahre Kreuzberg, eine Preistafel mit Bier für zwee Euro fufzich. Eine Handvoll alter Holztische stehen herum, grobes Holz mit eingeritzten Hinterlassenschaften der Gäste aus den letzten 20 Jahren.
Hinter dem Tresen steht Paulsen; niemand kann sagen, wie er wirklich heißt. Jeder ruft ihn Paulsen. Solange ich zurückdenken kann, steht er hinter dieser Bar und verteilt allabendlich seinen flüssigen Gerstensegen an die bedürftigen, einsamen Seelen, die sich aus der Welt da draußen nach einem weiteren dahin eiernden Tag, in die vertraut-dunstige Düsternis, die wohlig nach altem Schweiß, kaltem Rauch und Alkoholdunst riecht, schleppen. Nicht jeder Abend ist gleich, nicht jeder Abend treibt die gleichen Leute durch die Eingangstür. Nur Paulsen ist immer da. Er humpelt, eine Verletzung von seiner Zeit auf dem Fischtrawler, lange her. Irgendwann hatte er mir mal davon erzählt. An die Einzelheiten kann ich mich kaum erinnern. Der Tag war lang und der Abend noch länger gewesen. Ich glaube, er ist mit seinem Bein im Schleppnetz hängen geblieben, irgend so etwas.
Der Laden ist ganz gut besucht für einen Montagabend. Die Gestalten drücken sich in die Schatten, halten ihre Gläser in den Händen – sich wohlig ergießende Kelche der Glückseligkeit, die irgendwo zwischen Resignation und Selbstbetrug stecken geblieben ist – ohne dabei das Geringste zu bemerken, geschweige denn zu verstehen. Nur spüren tun sie es alle, tief in ihrem Inneren, das sie nach genug Segen der Welt entgegen brüllen. Ich suche schon lange nach einem Wort, das diesen Zustand treffend beschreibt. Traurigkeit ist zu einfach, zu nahe liegend, denn es ist viel mehr, was da in diesen schluckenden, krakeelend schweigenden Gestalten mitschwingt. Da sind ein Bereuen und eine Trauer. Darüber, dass man nicht der Mensch ist, der man gerne sein wollte; eine Erkenntnis, dass man dieser Jemand auch nie sein wird. Im gleichen Atemzug sticht das unbestimmte Bewusstsein um die Privilegiertheit der eigenen Situation und die Unfähigkeit mit ihr umzugehen. Was wiederum zum Hadern mit dem eigenen Selbst führt und so weiter und so fort. Das Verlangen, für diesen Zustand ein adäquates Wort zu formulieren, erscheint mir nahezu unauflösbar.
Frottie und ich sitzen zwischen all dem und nippen an unseren Bieren. Wir kennen uns lange, vielleicht schon viel zu lange. Ich kann mich kaum noch an die Prä-Frottie-Ära erinnern, aber die muss es ja irgendwann mal gegeben haben; ich muss zu dieser Zeit auch irgendetwas gemacht haben, außer atmen und doof aus der Wäsche zu schauen. So ist das mit der Zeit, die fließt einem die Kehle runter, wie ein kaltes Guinness und ehe man sich versieht, kippt man vom Barhocker. Ich habe immer das Gefühl, dass die Zeit, wenn ich einen über den Durst getrunken habe, viel schneller läuft. Es geht alles so fix, dass ich mich nicht einmal an Einzelheiten erinnern kann. Dann weiß ich nur noch, dass ich in die Straßenbahn gestiegen bin und irgendwann in mein Bett fiel. Was dazwischen passierte – keine Ahnung. Wenn mir dann Freunde erzählen, wie viel man noch erzählt habe, oder dass man einer alten (vermeintlichen) Naziwitwe, die auf dem Weg zum sonntäglichen Heldengrabbesuch war, erklärte, dass sie, ihr Mann und das ganze Gesocks den Karren ganz schön tief in den Dreck gesetzt hätten, wundere ich mich jedes Mal. Dann kratze ich mir am Kopf und sage so etwas wie: „Echt jetzt?“ oder „Mensch, sag bloß.“
Doch genug über die Zeit gefaselt, auf die kommen wir noch früh genug wieder zu sprechen.
Frottie ist natürlich ein Spitzname. Eigentlich heißt er, ach, habe ich vergessen. Ist auch egal. Sein Name hat in jedem Fall nicht das Geringste mit seinem Spitznamen zu tun. Er bekam ihn irgendwann aufgrund seiner eigenartigen Obsession für kleine Nagetiere. Nichts Perverses oder so, mit jemandem, der Hamster als Ejakulationshilfe benutzt, würde ich nichts zu tun haben wollen. Frottie mochte diese kleinen Nager eben. Dieses Liebe ging soweit, dass er irgendwann mit einem T-Shirt vor mir stand, auf dem so ein Nagerkopf abgebildet war. Ich identifizierte es als Frettchen, doch Frottie war nicht davon abzubringen, dass es sich um einen Otter handele. Aber seien wir mal ehrlich, warum sollte jemand mit einer Obsession für Nagetiere ein Otter-Shirt tragen? Immerhin fressen Otter wahrscheinlich Nager. Also wäre ein solches T-Shirt, solange es nicht sagt: „Wegen Mordes gesucht“, vollkommen unsinnig – Ganz nebenbei wäre ein Frettchen nicht besser, denn die gehören, wie die Otter zu den Mardern, und fressen wahrscheinlich auch Nager. Was soll ich sagen? Wir waren jung, übergeschnappt und ungebildet.
Weil wir uns nicht wegen solcher Lappalien überwerfen wollten und diese kleine Diskussion auszuarten drohte – Frottie brachte immer wieder seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass ich davon überzeugt war, er hätte eine Nagetierobsession. Vollkommen unverständlich, warum er das immer wieder, bis zu diesem Tag negiert. – einigten wir uns darauf, dass es sich bei dem Vieh auf dem Shirt um ein Frottie handele. So kam Frottie zu seinem Namen.
Wir saßen also in dieser Bar, tranken unser Bier und unterhielten uns. Wie wir letztlich auf das Thema Glück und Schicksal kamen, weiß ich nicht mehr genau. So wie ich die Situation einschätze, ging ein solches, oder ein ähnliches Gespräch voran:
Frottie zu mir: „Wie sieht es jetzt eigentlich bei dir und … aus?“
Ein nippen am Bier: „Ach, ist doch schon alles nicht mehr wahr. Lass uns das Thema wechseln.“
Dann folgt ein hin und her, in dessen Folge ich meine kleine Herzensangelegenheit ausbreite, Frottie daneben sitzt, nickt, so was sagt wie: „Oh, Mann. Das ist scheiße, ja“, und mir freundschaftlich auf die Schulter patscht. Dann ist es an mir zu fragen und Frottie beginnt seine kleine Herzensangelegenheit auszubreiten. Ich nicke, sage so etwas wie: „Oh, Mann. Echt scheiße von ihr“, und patsche ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Soweit, so üblich. Aber dann muss er etwas gesagt haben wie: „Vielleicht soll ich einfach niemanden abbekommen.“ Und das ergab dann den Ausgangspunkt unser Diskussion: „Na, du weißt schon, Schicksal.“
Der Rest des Abends war ab dem Zeitpunkt gelaufen. Wir redeten über nichts anderes mehr als das Konzept von Schicksal und Zufall.
Na, du weißt schon, Schicksal.
„Was soll das eigentlich bedeuten? Das würde doch heißen, es gäbe irgendsoetwas wie ein Ziel oder eine Bestimmung. Dafür müsste es aber einen übergeordneten Plan geben. – Hier kommt die Neuigkeit. – Der existiert nicht. Jedenfalls nicht in diesem Es ist meine unausweichliche Bestimmung – Sinne.“
Frottie fuhr sich mit der Hand über den Mund. Er nippte an seinem Bier und nickte dann: „Der Punkt muss bleiben; eine Unausweichlichkeit gibt es – Alles muss irgendwann einmal sterben. Da nehmen sich Menschen, Planeten, Sterne und Galaxien nichts.“
Ich winkte ab. „Alles hat eben lediglich eine beschränkte Halbwertszeit, du, ich, dieses Bier“, dabei leerte ich das Glas mit einem letzten Schluck. Paulsen trat heran, ein mit Blümchen und Pünktchen verziertes Handtuch in seinen zerfurchten alten Seefahrerhänden: „Na, wollt ihr noch eins?“ „Füll nach, der Abend wird noch lang“, und zu Frottie gewandt, „Aber das Schicksal dabei zu bemühen, halte ich für vollkommen deppenhaft.“
Frottie zuckte die Schultern: „Es beruhigt die Menschen eben.“ Beinahe wäre ich rücklings vom Stuhl gefallen. „Mir hilft es manchmal, wenn ich den Sinn hinter etwas nicht erkenne. Es ist eben nicht leicht zu akzeptieren, dass alles bloß Zufall und vollkommen sinnlos sein soll.“
Paulsen stellte die Biere auf den Tresen, ein Guinness und ein Alexanderbier.
Ich fuhr Frottie an: „Aber es ist nicht die Wahrheit.“
Frottie schnippte ein Stück Erdnuss vom Tresen und traf einen sehr stämmigen, betrunkenen Krakeeler am Hinterkopf. Dieser fuhr herum und ging in seinem Suff davon aus, der Typ hinter ihm hätte ihn angestupst. Er begann diesen vermeintlichen Provokateur, einem hochgewachsenen Mann in so einem tödlich-geschmackvollen, dunkelblauen Anzug, zu dem er sportlich-fesch ein rosa Poloshirt trug, auf den Zahn zu fühlen.
Ich schüttelte den Kopf: „Okay. 1tens: Ich kann nicht an Schicksal und die Gesetze der Naturwissenschaft glauben, die bisher letztlich alle darauf hinweisen, dass es lediglich einen Zufall und bestenfalls Glück – was von der Position des Betrachters abhängig ist – gibt. 2tens: Wenn es ein Schicksal gäbe, dann haben alle armen Schweine, die elendig krepierten, die im Dreck leben und Scheiße fressen müssen, nie eine andere Chance gehabt. Wie aufbauend ist das bitte schön? Dann müssen diese Typen sogar so elendig dran sein, ist ja ihr Schicksal, soll so sein. Wie menschenverachtend ist das? Weil es Schicksal war, mussten 6.Mio. Jud…“
Hier unterbrach mich Frottie: „Schicksal bedeutet doch nicht etwas sei unausweichlich.“
„Doch, genau das bedeutet es. Ein Moment in dem es keine anderen Wege zu gehen gibt, der Augenblick, der keine Entscheidung zulässt“, ich nahm einen großen Schluck von meinem Guinness, „Für die Meisten gibt es in ihrem ganzen Leben lediglich einen einzigen solchen Moment. – Ihr Tod.“
Der betrunkene Krakeeler und er Anzugträger waren mittlerweile dazu übergegangen sich zu schupsen und Paulsen machte sich dran, dass Handtuch immer noch in seinen Pranken, dazwischen zu gehen.
„Wo war ich? Ach ja, 3tens: Folgt aus 2tens: Wenn es ein Schicksal gibt, dann ist es nicht nur für alles Schlechte, jede Unzulänglichkeit und jedes Versagen, sondern auch für alles Gute und jeglichen Erfolg verantwortlich. Du hättest nichts, aber auch gar nichts in deinem Leben eigenständig erreicht. Willst du das?“
Frottie schüttelte den Kopf. Mittlerweile hatten sich die Streithähne hinter uns wieder beruhigt.
Frottie kippte sein Bier: „Ich habe einen Vorschlag. Es gibt ein Schicksal – Nein, lass mich ausreden. – Aber, das ist für uns nicht relevant. Hinter dem ganzen Chaos, dem Zufall und er Sinnlosigkeit steht ein Rhythmus, ein System, das wir lediglich noch nicht verstanden haben und darum der Einfachheit halber mystifizieren und es Schicksal nennen. Für uns, das Universum, ist das aber vollkommen irrelevant. Das Schicksal ist quasi der scheiß Midgard-Drache – existent, aber wen juckts, weil eh nicht zu erlegen?“
Ich schnipste ein weiteres Stückchen alter Erdnuss fort und traf den Betrunkenen von vorhin erneut am Kopf. Er fuhr herum und drückte ohne zu zögern dem Anzugträger seine Faust mit voller Wucht ins Gesicht, worauf in den Bruchteilen einer Sekunde die wildeste Kneipenschlägere losbrach. Frottie und ich verfolgten das Schauspiel von unseren Hockern an der Theke.
„So was passiert doch bloß im Fernsehen.“
Ein Stuhl kam geflogen, unter dem wir uns wegduckten und der hinter dem Tresen die Schnapsflaschen klirren ließ.
Der Klang von Sirenen drang in die Bar. Ich kippte mein Guinness (nicht das Letzte dieser Nacht) hinunter und wir hauten ab.
Ohne zu bezahlen.

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