Paulsen, Frottie und ich
Die Bar ist
klein, kaum größer als meine 1-Zimmer-40m²-Wohnung und auch nicht wesentlich
sauberer. Die Wände sind behangen mit Bilderrahmen, Urkunden von gewonnen
Kegelwettbewerben, 200 Jahre Kreuzberg, eine Preistafel mit Bier für zwee Euro
fufzich. Eine Handvoll alter Holztische stehen herum, grobes Holz mit
eingeritzten Hinterlassenschaften der Gäste aus den letzten 20 Jahren.
Hinter dem
Tresen steht Paulsen; niemand kann sagen, wie er wirklich heißt. Jeder ruft ihn
Paulsen. Solange ich zurückdenken kann, steht er hinter dieser Bar und verteilt
allabendlich seinen flüssigen Gerstensegen an die bedürftigen, einsamen Seelen,
die sich aus der Welt da draußen nach einem weiteren dahin eiernden Tag, in die
vertraut-dunstige Düsternis, die wohlig nach altem Schweiß, kaltem Rauch und
Alkoholdunst riecht, schleppen. Nicht jeder Abend ist gleich, nicht jeder Abend
treibt die gleichen Leute durch die Eingangstür. Nur Paulsen ist immer da. Er
humpelt, eine Verletzung von seiner Zeit auf dem Fischtrawler, lange her.
Irgendwann hatte er mir mal davon erzählt. An die Einzelheiten kann ich mich
kaum erinnern. Der Tag war lang und der Abend noch länger gewesen. Ich glaube,
er ist mit seinem Bein im Schleppnetz hängen geblieben, irgend so etwas.
Der Laden
ist ganz gut besucht für einen Montagabend. Die Gestalten drücken sich in die
Schatten, halten ihre Gläser in den Händen – sich wohlig ergießende Kelche der
Glückseligkeit, die irgendwo zwischen Resignation und Selbstbetrug stecken
geblieben ist – ohne dabei das Geringste zu bemerken, geschweige denn zu
verstehen. Nur spüren tun sie es alle, tief in ihrem Inneren, das sie nach
genug Segen der Welt entgegen brüllen. Ich suche schon lange nach einem Wort,
das diesen Zustand treffend beschreibt. Traurigkeit
ist zu einfach, zu nahe liegend, denn es ist viel mehr, was da in diesen
schluckenden, krakeelend schweigenden Gestalten mitschwingt. Da sind ein Bereuen
und eine Trauer. Darüber, dass man nicht der Mensch ist, der man gerne sein
wollte; eine Erkenntnis, dass man dieser Jemand auch nie sein wird. Im gleichen
Atemzug sticht das unbestimmte Bewusstsein um die Privilegiertheit der eigenen
Situation und die Unfähigkeit mit ihr umzugehen. Was wiederum zum Hadern mit dem
eigenen Selbst führt und so weiter und so fort. Das Verlangen, für diesen
Zustand ein adäquates Wort zu formulieren, erscheint mir nahezu unauflösbar.
Frottie und
ich sitzen zwischen all dem und nippen an unseren Bieren. Wir kennen uns lange,
vielleicht schon viel zu lange. Ich kann mich kaum noch an die Prä-Frottie-Ära
erinnern, aber die muss es ja irgendwann mal gegeben haben; ich muss zu dieser
Zeit auch irgendetwas gemacht haben, außer atmen und doof aus der Wäsche zu
schauen. So ist das mit der Zeit, die fließt einem die Kehle runter, wie ein
kaltes Guinness und ehe man sich versieht, kippt man vom Barhocker. Ich habe
immer das Gefühl, dass die Zeit, wenn ich einen über den Durst getrunken habe,
viel schneller läuft. Es geht alles so fix, dass ich mich nicht einmal an
Einzelheiten erinnern kann. Dann weiß ich nur noch, dass ich in die Straßenbahn
gestiegen bin und irgendwann in mein Bett fiel. Was dazwischen passierte –
keine Ahnung. Wenn mir dann Freunde erzählen, wie viel man noch erzählt habe,
oder dass man einer alten (vermeintlichen) Naziwitwe, die auf dem Weg zum
sonntäglichen Heldengrabbesuch war, erklärte, dass sie, ihr Mann und das ganze
Gesocks den Karren ganz schön tief in den Dreck gesetzt hätten, wundere ich
mich jedes Mal. Dann kratze ich mir am Kopf und sage so etwas wie: „Echt
jetzt?“ oder „Mensch, sag bloß.“
Doch genug
über die Zeit gefaselt, auf die kommen wir noch früh genug wieder zu sprechen.
Frottie ist
natürlich ein Spitzname. Eigentlich heißt er, ach, habe ich vergessen. Ist auch
egal. Sein Name hat in jedem Fall nicht das Geringste mit seinem Spitznamen zu
tun. Er bekam ihn irgendwann aufgrund seiner eigenartigen Obsession für kleine
Nagetiere. Nichts Perverses oder so, mit jemandem, der Hamster als
Ejakulationshilfe benutzt, würde ich nichts zu tun haben wollen. Frottie mochte
diese kleinen Nager eben. Dieses Liebe
ging soweit, dass er irgendwann mit einem T-Shirt vor mir stand, auf dem so ein
Nagerkopf abgebildet war. Ich identifizierte es als Frettchen, doch Frottie war
nicht davon abzubringen, dass es sich um einen Otter handele. Aber seien wir
mal ehrlich, warum sollte jemand mit einer Obsession für Nagetiere ein
Otter-Shirt tragen? Immerhin fressen Otter wahrscheinlich Nager. Also wäre ein
solches T-Shirt, solange es nicht sagt: „Wegen Mordes gesucht“, vollkommen
unsinnig – Ganz nebenbei wäre ein Frettchen nicht besser, denn die gehören, wie
die Otter zu den Mardern, und fressen wahrscheinlich auch Nager. Was soll ich
sagen? Wir waren jung, übergeschnappt und ungebildet.
Weil wir uns
nicht wegen solcher Lappalien überwerfen wollten und diese kleine Diskussion
auszuarten drohte – Frottie brachte immer wieder seine Verwunderung darüber zum
Ausdruck, dass ich davon überzeugt war, er hätte eine Nagetierobsession.
Vollkommen unverständlich, warum er das immer wieder, bis zu diesem Tag negiert.
– einigten wir uns darauf, dass es sich bei dem Vieh auf dem Shirt um ein
Frottie handele. So kam Frottie zu seinem Namen.
Wir saßen
also in dieser Bar, tranken unser Bier und unterhielten uns. Wie wir letztlich
auf das Thema Glück und Schicksal kamen, weiß ich nicht mehr genau. So wie ich
die Situation einschätze, ging ein solches, oder ein ähnliches Gespräch voran:
Frottie zu
mir: „Wie sieht es jetzt eigentlich bei dir und … aus?“
Ein nippen
am Bier: „Ach, ist doch schon alles nicht mehr wahr. Lass uns das Thema
wechseln.“
Dann folgt
ein hin und her, in dessen Folge ich meine kleine Herzensangelegenheit
ausbreite, Frottie daneben sitzt, nickt, so was sagt wie: „Oh, Mann. Das ist
scheiße, ja“, und mir freundschaftlich auf die Schulter patscht. Dann ist es an
mir zu fragen und Frottie beginnt seine kleine Herzensangelegenheit
auszubreiten. Ich nicke, sage so etwas wie: „Oh, Mann. Echt scheiße von ihr“, und
patsche ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Soweit, so
üblich. Aber dann muss er etwas gesagt haben wie: „Vielleicht soll ich einfach
niemanden abbekommen.“ Und das ergab dann den Ausgangspunkt unser Diskussion:
„Na, du weißt schon, Schicksal.“
Der Rest des
Abends war ab dem Zeitpunkt gelaufen. Wir redeten über nichts anderes mehr als
das Konzept von Schicksal und Zufall.
Na, du weißt schon, Schicksal.
„Was soll
das eigentlich bedeuten? Das würde doch heißen, es gäbe irgendsoetwas wie ein
Ziel oder eine Bestimmung. Dafür müsste es aber einen übergeordneten Plan
geben. – Hier kommt die Neuigkeit. – Der existiert nicht. Jedenfalls nicht in
diesem Es ist meine unausweichliche
Bestimmung – Sinne.“
Frottie fuhr
sich mit der Hand über den Mund. Er nippte an seinem Bier und nickte dann: „Der
Punkt muss bleiben; eine Unausweichlichkeit gibt es – Alles muss irgendwann
einmal sterben. Da nehmen sich Menschen, Planeten, Sterne und Galaxien nichts.“
Ich winkte
ab. „Alles hat eben lediglich eine beschränkte Halbwertszeit, du, ich, dieses
Bier“, dabei leerte ich das Glas mit einem letzten Schluck. Paulsen trat heran,
ein mit Blümchen und Pünktchen verziertes Handtuch in seinen zerfurchten alten
Seefahrerhänden: „Na, wollt ihr noch eins?“ „Füll nach, der Abend wird noch
lang“, und zu Frottie gewandt, „Aber das Schicksal dabei zu bemühen, halte ich
für vollkommen deppenhaft.“
Frottie
zuckte die Schultern: „Es beruhigt die Menschen eben.“ Beinahe wäre ich
rücklings vom Stuhl gefallen. „Mir hilft es manchmal, wenn ich den Sinn hinter
etwas nicht erkenne. Es ist eben nicht leicht zu akzeptieren, dass alles bloß
Zufall und vollkommen sinnlos sein soll.“
Paulsen
stellte die Biere auf den Tresen, ein Guinness und ein Alexanderbier.
Ich fuhr
Frottie an: „Aber es ist nicht die Wahrheit.“
Frottie
schnippte ein Stück Erdnuss vom Tresen und traf einen sehr stämmigen,
betrunkenen Krakeeler am Hinterkopf. Dieser fuhr herum und ging in seinem Suff
davon aus, der Typ hinter ihm hätte ihn angestupst. Er begann diesen
vermeintlichen Provokateur, einem hochgewachsenen Mann in so einem
tödlich-geschmackvollen, dunkelblauen Anzug, zu dem er sportlich-fesch ein rosa
Poloshirt trug, auf den Zahn zu fühlen.
Ich
schüttelte den Kopf: „Okay. 1tens: Ich kann nicht an Schicksal und die Gesetze der Naturwissenschaft
glauben, die bisher letztlich alle darauf hinweisen, dass es lediglich einen
Zufall und bestenfalls Glück – was von der Position des Betrachters abhängig
ist – gibt. 2tens: Wenn es ein Schicksal gäbe, dann haben alle armen Schweine,
die elendig krepierten, die im Dreck leben und Scheiße fressen müssen, nie eine
andere Chance gehabt. Wie aufbauend ist das bitte schön? Dann müssen diese Typen sogar so elendig dran
sein, ist ja ihr Schicksal, soll so sein. Wie menschenverachtend ist das? Weil
es Schicksal war, mussten 6.Mio. Jud…“
„Doch, genau
das bedeutet es. Ein Moment in dem es keine anderen Wege zu gehen gibt, der
Augenblick, der keine Entscheidung zulässt“, ich nahm einen großen Schluck von
meinem Guinness, „Für die Meisten gibt es in ihrem ganzen Leben lediglich einen
einzigen solchen Moment. – Ihr Tod.“
Der betrunkene Krakeeler und er Anzugträger waren mittlerweile dazu übergegangen sich zu schupsen und Paulsen machte sich dran, dass Handtuch immer noch in seinen Pranken, dazwischen zu gehen.
Der betrunkene Krakeeler und er Anzugträger waren mittlerweile dazu übergegangen sich zu schupsen und Paulsen machte sich dran, dass Handtuch immer noch in seinen Pranken, dazwischen zu gehen.
„Wo war ich?
Ach ja, 3tens: Folgt aus 2tens: Wenn es ein Schicksal gibt, dann ist es nicht
nur für alles Schlechte, jede Unzulänglichkeit und jedes Versagen, sondern auch
für alles Gute und jeglichen Erfolg verantwortlich. Du hättest nichts, aber
auch gar nichts in deinem Leben eigenständig erreicht. Willst du das?“
Frottie
schüttelte den Kopf. Mittlerweile hatten sich die Streithähne hinter uns wieder
beruhigt.
Frottie
kippte sein Bier: „Ich habe einen Vorschlag. Es gibt ein Schicksal – Nein, lass
mich ausreden. – Aber, das ist für uns nicht relevant. Hinter dem ganzen Chaos,
dem Zufall und er Sinnlosigkeit steht ein Rhythmus, ein System, das wir
lediglich noch nicht verstanden haben und darum der Einfachheit halber
mystifizieren und es Schicksal nennen. Für uns, das Universum, ist das aber
vollkommen irrelevant. Das Schicksal ist quasi der scheiß Midgard-Drache –
existent, aber wen juckts, weil eh nicht zu erlegen?“
Ich
schnipste ein weiteres Stückchen alter Erdnuss fort und traf den Betrunkenen
von vorhin erneut am Kopf. Er fuhr herum und drückte ohne zu zögern dem
Anzugträger seine Faust mit voller Wucht ins Gesicht, worauf in den Bruchteilen
einer Sekunde die wildeste Kneipenschlägere losbrach. Frottie und ich verfolgten
das Schauspiel von unseren Hockern an der Theke.
„So was
passiert doch bloß im Fernsehen.“
Ein Stuhl
kam geflogen, unter dem wir uns wegduckten und der hinter dem Tresen die
Schnapsflaschen klirren ließ.
Der Klang
von Sirenen drang in die Bar. Ich kippte mein Guinness (nicht das Letzte dieser
Nacht) hinunter und wir hauten ab.
Ohne zu
bezahlen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen