Review: "Die Vierte Gewalt"
Die Stadt Ilmenau in Thüringen
ist klein, sehr klein. Doch sie besitzt eine immer größer werdende
Filmemacherszene. Ein paar dieser jungen Filmschaffenden beweisen mit ihrer
Produktion „Die Vierte Gewalt“, die am
Montag um 01:10 (!) im Rahmen der Unicato-Reihe im MDR-Fernsehen lief.
In dem Film „Die Vierte Gewalt“
werden die Hintergründe eines Amoklaufes an einer Universität einer Kleinstadt
behandelt, in dessen Verlauf die Täterin Lilly (Marie Luise Stahl) ums Leben
kommt. Was als vorhersehbarer Plot beginnt, entwickelt sich zu einer
intelligenten und tatsächlich überraschenden Geschichte. Erzählt wird in der
Retrospektive von Gott und Teufel persönlich (Daniel Krauss und Gotthard
Lange). In ihrem Disput über die Besitzansprüche auf Lillys Seele verfolgen
beide den Tathergang des Amoklaufs ganz modern via Computerbildschirm und doch
ganz klassisch mit Worten aus Goethes „Faust“. Gerade dieser Erzählstrang ist
ein Beispiel für die Cleverness des Stoffes. Scheint das Auftreten von Gott und
Teufel anfangs irritierend, vielleicht durch die damit verbundene moralische
Zeigefingerhaftigkeit sogar obsolet, verleiht doch eben dieser Plotstrang der
„Vierten Gewalt“ am Ende einen cineastischen Kniff, den andere Produktionen
entbehren würden. Moralisch bleibt es, doch nicht bemüht oder lehrerhaft.
Die sozialen Hintergründe der
beiden Hauptfiguren Franzi (Malin Steffen) und Lilly dienen als sich
konterkarierende Lebenswege. Beide Mädchen gehen in die gleiche Klasse, später
auf die gleiche Universität. Sie beide kommen nicht aus der Kleinstadt, in der
sie aufgewachsen sind, heraus. Dennoch könnten die beiden jungen Frauen nicht
unterschiedlicher sein. Lilly kommt aus der beklemmenden Enge einer
Plattenbausiedlung. Ihrer alleinerziehenden Mutter fällt es schwer die Familie
über Wasser zu halten. Der älteste Sohn droht in den Alkoholismus und die
Kriminalität abzurutschen. Der Kleinste hat diese drohende Perspektivlosigkeit
noch vor sich. Doch Lilly ist mit dem Talent und dem Willen geschlagen, aus
diesem Einbahnstraßendasein auszubrechen. Sie geht arbeiten, erst neben der
Schule, dann neben dem Studium. Sie lernt mit eiserner Disziplin, ist bereit,
ihr Privatleben der Hoffnung auf eine Zukunft zu opfern, während ihre Umgebung
diese schon lange aufgegeben hat.
Franzi hingegen kommt aus
gutbürgerlichem Elternhaus, schafft die Schule nur mit Lillys Hilfe und das
Studium ist für sie kaum zu bewältigen. Auch die Erwartungen ihrer Eltern
belasten sie. Beachtung und Interesse von Mama und Papa sind für sie ganz eng
an ihren Erfolg in Schule, Universität und Beruf gekoppelt. Diese Eltern sind
derart mit sich selbst beschäftigt, dass es ihnen unmöglich ist, zu begreifen,
wer ihre Tochter eigentlich ist.
Trotz dieser Unterschiede
verbindet Lilly und Franzi eine Freundschaft. Doch je stärker das privilegierte
Leben den grauen Alltag der Plattenbauherkunft konterkariert, desto tiefer
werden die Gräben zwischen diesen alten Freundinnen. Es ist eine Freundschaft
trotz allem und die soziale Disparität der Figuren reißt alles auseinander.
Kalt und klar sind diese Bilder,
die Frank Hartmann durch sein Kameraauge präsentiert. Die Weitläufigkeit der
Einfamilienvilla im beschaulichen Viertel wird der klaustrophobischen Enge
einer Plattenwohnung gegenübergestellt. Hier vermag man kaum zu atmen und Lilly
bleibt nur zu bewundern, wie sie es dennoch versucht. Demjenigen, der daran
scheitert, ist kein Vorwurf zu machen.
Währenddessen verliert sich
Franzi in der Weitläufigkeit der Leere ihrer Privilegiertheit. Sie und ihre
Eltern sind allein und merken es nicht. Das haben die beiden Freundinnen
gemein, die Einsamkeit, auch wenn diese von unterschiedlichen Gründen rührt und
auch wenn beide auf unterschiedliche Art darauf reagieren.
Vieles in der „Vierten Gewalt“
wurde vom Regisseurteam Benjamin Schmidt und Jan Schröder als entleert
inszeniert. Die Eltern, die für Franzis und Lillys Lebenswege keine Vorbilder
sein können. Die Worte der Dozenten, die Adorno zitieren und die Bedeutung
ihrer Worte nicht verstanden zu haben scheinen. Ja, sogar das
Universitätsgebäude, das kalt und tot wirkt, eine Fabrik, die Wissende
generiert, aber kein Wissen schafft. Und schließlich eine Gesellschaft, die
Chancengleichheit für alle verspricht und sich doch nur hinter ihren eigenen
Phrasen versteckt. Da ist viel Platz zum Nicht-Sein, denn da ist eine
moralische und intellektuelle Leere, die dem Zuschauer der „Vierten Gewalt“
vorgeführt wird.
Lillys und Franzis Dozent Prof.
Rothmann (Matthias Winde) spricht davon, dass Medien die wahrgenommene
Wirklichkeit bestimmen und schmettert Lillys Einwurf, dass es dazwischen eine
Wahrheit gäbe, lax ab. Das Bedürfnis nach Wirklichem verkommt zur Überleitung
zur nächsten Präsentationsfolie. Lebenswege sind in diesem Vakuum
Unausweichlichkeiten in ihrer Vorzeichnung durch den sozialen Stand des
Einzelnen und unter dem Druck des Urteils der Vielen. Einer der Studenten fasst
das Lilly gegenüber auf einer Party in seiner betrunkenen Weisheit zusammen:
„Das Spiel ist die Hölle, aber im Gegensatz zu dir, bin ich nicht stark genug,
um davon weg zu kommen.“
Was dieses junge Team um die
Regisseure Schmidt und Schröder da zustande gebracht hat, sollte all jene, die
immer wieder prognostizieren, die deutschsprachige Filmlandschaft habe nichts
Aufregendes mehr zu bieten, Lügen strafen. „Die Vierte Gewalt“ ist ein Film,
von dessen cineastischer Qualität sich so manche finanziell größer aufgestellte
nationale Produktion mehr als nur eine Scheibe abschneiden sollte … Und das
betrifft alle (!) filmischen Teilbereiche von der Produktion, über die
schauspielerischen Leistungen (Frau Stahl, Frau Steffen, das macht Spaß, Ihnen
zuzusehen.), zur Inszenierung und Dramaturgie, bis hin zum im deutschsprachigen
Film sonst oft stiefmütterlich behandelten Ressort des Drehbuches. Gerade
letzteres zeugt von der Cleverness und dem Können der Drehbuchautoren Doris
Schmidt und Henryk Balkow, die beweisen, dass es möglich ist, flüssige Dialoge
zu schreiben, auch wenn sie auf Deutsch sind.
Wer den Film „Die Vierte Gewalt“
noch nicht gesehen hat, dem ist er wärmstens ans Herz zu legen. Es bleibt zu
fragen, warum es nicht möglich ist, solch ambitionierte Projekte zu einer
angemesseneren Sendezeit zu bringen. Zu fragen bleibt auch, warum nicht mehr
solcher Filme angemessenere Unterstützung von Seiten des Business finden. „Die
Vierte Gewalt“ ist bei all dem sein eigener Botschafter: Mit Einfallsreichtum,
Disziplin, viel Herzblut und Talent kann etwas Großartiges entstehen. Aber die
Beschränkungen der vermeintlich schrankenlosen Möglichkeiten sind enorm. Man
kann nur hoffen, dass die wahre Größe, die diese Filmschaffenden mit „Die
Vierte Gewalt“ bewiesen, nicht unerkannt bleibt. Ich für meinen Teil ziehe
meinen Hut und bedanke mich für einen spannenden und mutigen Film.
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