Review: "Die Vierte Gewalt"

"Die Vierte Gewalt" a review by Wolf-Peter Arand
Die Stadt Ilmenau in Thüringen ist klein, sehr klein. Doch sie besitzt eine immer größer werdende Filmemacherszene. Ein paar dieser jungen Filmschaffenden beweisen mit ihrer Produktion „Die Vierte Gewalt“, die  am Montag um 01:10 (!) im Rahmen der Unicato-Reihe im MDR-Fernsehen lief.

In dem Film „Die Vierte Gewalt“ werden die Hintergründe eines Amoklaufes an einer Universität einer Kleinstadt behandelt, in dessen Verlauf die Täterin Lilly (Marie Luise Stahl) ums Leben kommt. Was als vorhersehbarer Plot beginnt, entwickelt sich zu einer intelligenten und tatsächlich überraschenden Geschichte. Erzählt wird in der Retrospektive von Gott und Teufel persönlich (Daniel Krauss und Gotthard Lange). In ihrem Disput über die Besitzansprüche auf Lillys Seele verfolgen beide den Tathergang des Amoklaufs ganz modern via Computerbildschirm und doch ganz klassisch mit Worten aus Goethes „Faust“. Gerade dieser Erzählstrang ist ein Beispiel für die Cleverness des Stoffes. Scheint das Auftreten von Gott und Teufel anfangs irritierend, vielleicht durch die damit verbundene moralische Zeigefingerhaftigkeit sogar obsolet, verleiht doch eben dieser Plotstrang der „Vierten Gewalt“ am Ende einen cineastischen Kniff, den andere Produktionen entbehren würden. Moralisch bleibt es, doch nicht bemüht oder lehrerhaft.

Die sozialen Hintergründe der beiden Hauptfiguren Franzi (Malin Steffen) und Lilly dienen als sich konterkarierende Lebenswege. Beide Mädchen gehen in die gleiche Klasse, später auf die gleiche Universität. Sie beide kommen nicht aus der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen sind, heraus. Dennoch könnten die beiden jungen Frauen nicht unterschiedlicher sein. Lilly kommt aus der beklemmenden Enge einer Plattenbausiedlung. Ihrer alleinerziehenden Mutter fällt es schwer die Familie über Wasser zu halten. Der älteste Sohn droht in den Alkoholismus und die Kriminalität abzurutschen. Der Kleinste hat diese drohende Perspektivlosigkeit noch vor sich. Doch Lilly ist mit dem Talent und dem Willen geschlagen, aus diesem Einbahnstraßendasein auszubrechen. Sie geht arbeiten, erst neben der Schule, dann neben dem Studium. Sie lernt mit eiserner Disziplin, ist bereit, ihr Privatleben der Hoffnung auf eine Zukunft zu opfern, während ihre Umgebung diese schon lange aufgegeben hat.

Franzi hingegen kommt aus gutbürgerlichem Elternhaus, schafft die Schule nur mit Lillys Hilfe und das Studium ist für sie kaum zu bewältigen. Auch die Erwartungen ihrer Eltern belasten sie. Beachtung und Interesse von Mama und Papa sind für sie ganz eng an ihren Erfolg in Schule, Universität und Beruf gekoppelt. Diese Eltern sind derart mit sich selbst beschäftigt, dass es ihnen unmöglich ist, zu begreifen, wer ihre Tochter eigentlich ist.
Trotz dieser Unterschiede verbindet Lilly und Franzi eine Freundschaft. Doch je stärker das privilegierte Leben den grauen Alltag der Plattenbauherkunft konterkariert, desto tiefer werden die Gräben zwischen diesen alten Freundinnen. Es ist eine Freundschaft trotz allem und die soziale Disparität der Figuren reißt alles auseinander.

Kalt und klar sind diese Bilder, die Frank Hartmann durch sein Kameraauge präsentiert. Die Weitläufigkeit der Einfamilienvilla im beschaulichen Viertel wird der klaustrophobischen Enge einer Plattenwohnung gegenübergestellt. Hier vermag man kaum zu atmen und Lilly bleibt nur zu bewundern, wie sie es dennoch versucht. Demjenigen, der daran scheitert, ist kein Vorwurf zu machen.

Währenddessen verliert sich Franzi in der Weitläufigkeit der Leere ihrer Privilegiertheit. Sie und ihre Eltern sind allein und merken es nicht. Das haben die beiden Freundinnen gemein, die Einsamkeit, auch wenn diese von unterschiedlichen Gründen rührt und auch wenn beide auf unterschiedliche Art darauf reagieren.

Vieles in der „Vierten Gewalt“ wurde vom Regisseurteam Benjamin Schmidt und Jan Schröder als entleert inszeniert. Die Eltern, die für Franzis und Lillys Lebenswege keine Vorbilder sein können. Die Worte der Dozenten, die Adorno zitieren und die Bedeutung ihrer Worte nicht verstanden zu haben scheinen. Ja, sogar das Universitätsgebäude, das kalt und tot wirkt, eine Fabrik, die Wissende generiert, aber kein Wissen schafft. Und schließlich eine Gesellschaft, die Chancengleichheit für alle verspricht und sich doch nur hinter ihren eigenen Phrasen versteckt. Da ist viel Platz zum Nicht-Sein, denn da ist eine moralische und intellektuelle Leere, die dem Zuschauer der „Vierten Gewalt“ vorgeführt wird.

Lillys und Franzis Dozent Prof. Rothmann (Matthias Winde) spricht davon, dass Medien die wahrgenommene Wirklichkeit bestimmen und schmettert Lillys Einwurf, dass es dazwischen eine Wahrheit gäbe, lax ab. Das Bedürfnis nach Wirklichem verkommt zur Überleitung zur nächsten Präsentationsfolie. Lebenswege sind in diesem Vakuum Unausweichlichkeiten in ihrer Vorzeichnung durch den sozialen Stand des Einzelnen und unter dem Druck des Urteils der Vielen. Einer der Studenten fasst das Lilly gegenüber auf einer Party in seiner betrunkenen Weisheit zusammen: „Das Spiel ist die Hölle, aber im Gegensatz zu dir, bin ich nicht stark genug, um davon weg zu kommen.“

Was dieses junge Team um die Regisseure Schmidt und Schröder da zustande gebracht hat, sollte all jene, die immer wieder prognostizieren, die deutschsprachige Filmlandschaft habe nichts Aufregendes mehr zu bieten, Lügen strafen. „Die Vierte Gewalt“ ist ein Film, von dessen cineastischer Qualität sich so manche finanziell größer aufgestellte nationale Produktion mehr als nur eine Scheibe abschneiden sollte … Und das betrifft alle (!) filmischen Teilbereiche von der Produktion, über die schauspielerischen Leistungen (Frau Stahl, Frau Steffen, das macht Spaß, Ihnen zuzusehen.), zur Inszenierung und Dramaturgie, bis hin zum im deutschsprachigen Film sonst oft stiefmütterlich behandelten Ressort des Drehbuches. Gerade letzteres zeugt von der Cleverness und dem Können der Drehbuchautoren Doris Schmidt und Henryk Balkow, die beweisen, dass es möglich ist, flüssige Dialoge zu schreiben, auch wenn sie auf Deutsch sind.

Wer den Film „Die Vierte Gewalt“ noch nicht gesehen hat, dem ist er wärmstens ans Herz zu legen. Es bleibt zu fragen, warum es nicht möglich ist, solch ambitionierte Projekte zu einer angemesseneren Sendezeit zu bringen. Zu fragen bleibt auch, warum nicht mehr solcher Filme angemessenere Unterstützung von Seiten des Business finden. „Die Vierte Gewalt“ ist bei all dem sein eigener Botschafter: Mit Einfallsreichtum, Disziplin, viel Herzblut und Talent kann etwas Großartiges entstehen. Aber die Beschränkungen der vermeintlich schrankenlosen Möglichkeiten sind enorm. Man kann nur hoffen, dass die wahre Größe, die diese Filmschaffenden mit „Die Vierte Gewalt“ bewiesen, nicht unerkannt bleibt. Ich für meinen Teil ziehe meinen Hut und bedanke mich für einen spannenden und mutigen Film.

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