F.

"F." a short story by Wolf-Peter Arand
F. kratzte sich am Kopf und drückte seine Zigarette aus. Es war alles nur eine Frage der Zeit, das wusste er und über kurz oder lang käme alles wieder in seine gewohnten Bahnen, dessen war er sich sicher. Die letzten Rauchschwaden seiner Kippe wallten durch den Raum über die Köpfe der Gäste hinweg – der verlorene Geist eines Verschiedenen. Früher glaubte F. an so etwas. Und jetzt?

 F. zog die Kapuze seines Pullovers über den blonden Haarschopf und schlang den Mantel enger um den Körper. Kalt war es in diesem Dezember und alle sagten, dass der Restwinter hart werden würde. F. spuckte aus und begann von einem Fuß auf den anderen zu treten. Er würde nicht mehr lange warten. Wenn sie nicht bald raus käme, dann ginge er alleine vor. Er hätte auch klingeln können, doch die Gefahr in ihren dämlichen Freund zu rennen, wollte er vermeiden. Dieser Kerl war die Projektionsfläche für F.‘s gesammelte Verachtung.. Jahrelang hatte er mit sich und seinen Gefühlen für seine Schwester gerungen. Als er endlich verstand, was es bedeutet, dass er dort ein ums andere Mal fühlte, wenn sie ihn umarmte, war es zu spät. Dabei war gerade alles vorbereitet gewesen. Die moralischen Bedenken und der Selbsthass waren sicher in einer dunklen Ecke der Psyche verstaut. Der Mut war gefasst, die Schwester endlich ohne ein schlechtes Gewissen in die Verschwörung, denn nichts anderes konnte ihre nicht geduldete Liebe sein, dessen war sich F. sicher, einzuweihen. F. war endlich bereit, aus der Schwärmerei beider für einander, eine Liebe zu schmieden. Doch dieser dahergelaufene Fatzke mit seinem Uniabschluss, den guten Manieren und dem einfühlsamen Gelaber zerstörte alles. Die Spannung, die seit der frühesten Kindheit zwischen F. und seiner Schwester bestanden hatte, wurde gelöst. F. konnte förmlich körperlich spüren, wie ihm der Neue die Schwester entriss und sie sich Tag für Tag ein bisschen mehr entfernte. Bis sie schließlich kaum mehr zu sehen war. Das veränderte alles. Das erste Mal in seinem Leben erkannte F., dass er nicht die Priorität für seine Schwester war. Sie hatte immer mal wieder jemand anderen gehabt; schließlich musste auch sie ihre Erfahrungen machen. Aber ihre Seele war nie für F. auf diese Weise verloren, wie sie es in dem Moment war, in dem Emma Carl traf. Wie konnte F. also nicht neidisch sein? Darauf, dass dieser Typ all das besaß, was F. für sich wollte. Darauf, dass dieser Typ mit jener Frau schlief, die F. liebte. Darauf, dass die koschere Liebe der Beiden das Verlangen F.‘s nur noch unreiner und perverser erschienen ließ.

 Eine Zigarette. Die Haustür öffnete sich und Emma trat heraus auf die Straße. F. versuchte möglichst cool mit dem Kopf zu nicken. Emma war zur Gänze in Schwarz gehüllt und zitterte leicht im kalten Nordwind. Sie trat nicht an F. heran, wie sie es sonst tat, doch der Geruch ihres Parfüms stieg ihm in die Nase und er konnte beinahe ihr Haar an seiner Wange spüren. Flüchtig nur bekam die Stumpfheit des immer-grauen Wintertages einen glänzenden Ton, wie der sanfte Klang der Stücke, die Emma ihm auf ihrem Klavier einst vorzuspielen pflegte. Der Moment ging vorüber und löste sich von ihm.

 Er blickte in ihre grünen Augen und wusste, dass sie geweint hatte.
 „Wie geht es dir?“
 Keine Antwort. Worte waren nicht notwendig. Sie wussten, was der andere sagen wollte; das war immer so gewesen. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Nacht keinen Schlaf gefunden. Schweigen. F. zog an seiner Zigarette und nickte vor sich hin, wie um sich selbst zu bestätigen. Er wusste, wenn er nichts sagte, fiele das Emma auf, aber heute … Die Sicht war heute auch für sie verklärt. F. verstand es nicht. Für ihn blieb es ein Tag wie jeder andere. Lediglich mit dem Unterschied, dass er einen gänzlich versauten Nachmittag vor sich hatte, mit bitterem Kaffee, überzuckertem Kuchen, Leuten, die er hasste, Geschichten, die erzählt werden würden, die aber keinerlei Relevanz besäßen. Andererseits, wer sollte schon dort sein, abgesehen von selbstgerechten Abziehbildern, die sich Familie schimpften?

 Sie nahm eine Zigarette, er schmunzelte.
 „Ich dachte du hast aufgehört“, sagte er süffisant.
 Sie schloss ihre wunderbaren Augen.
 „Bin nur wegen dir hier“, brummte er.
 Sie schwieg. Er schwieg.
 „Kommt Carl mit?“, ein klägliche Versuch, das Schweigen zu überbrücken. Er gab ihr einen Seitenblick, den sie ignorierte. Also war der Penner gar nicht zu Hause. Emma trat von einem Pumps-geschmückten kleinen Fuß auf den anderen. Es musste schweinekalt sein in dem Kleid, das konnte auch der dicke Mantel, in den sie gehüllt war, nicht verhindern. Warum diese Familientragödien auch immer im Winter geschehen mussten.

 Ein schwarzer Wagen fuhr vor, Mittelklasse, dreckig von außen und muffig von innen. Die Scheibe wurde herunter gekurbelt und ein Mann von Mitte 40 winkte Emma zu sich heran. Er stellte sich als Freund ihres Onkels vor, der sie abholen sollte. Emma stieg vorne ein und F. ließ sich auf die Rückbank fallen. Er war müde und während Emma leise mit dem Fahrer sprach, auch einer von diesen dämlichen Intelligenzlern, döste F. in der abgestandenen Wärme des sanft schaukelnden Wagens ein. Er träumte von Brüsten und Emmas schwarzem Kleid.

 F. erwachte. Der Wagen hatte gehalten. Er knurrte leise und blinzelte in das Gesicht des grauen Tages. Wo Emma sei, wollte er, zum Fahrer gewandt, wissen. F. blickte aus dem Seitenfenster; kleine Rinnsale von zerschollenen Regentropfen zogen sich von außen daran herab. Draußen lief Emma, den schlanken Körper mit ihren Armen umschlungen, auf das Portal des Gebäudes zu, das schüchtern aus dem Dunst des immer-grauen Winterlichts schulte. Einen Regenschirm haltend, den Arm um ihre schmale Schulter gelegt, ging Carl neben ihr.
  
  F. kramte eine Zigarette hervor und trat in den Regen hinaus. Der Wind fuhr in seinen Mantel. Der Fahrer schritt auf das Gebäude zu, in dem auch Emma und Carl verschwunden waren; eine leicht heruntergekommene Fassade, roter Backstein, eine große Fensterfront, in der Gardinen traurig hingen und Fensterrahmen, von denen die verblassende grüne Farbe abzublättern begann. Es war Paulsens Bar. F.‘s Familie kehrte seit jeher hier ein und über die Jahre war dieser Ort zu einem zweiten Wohnzimmer geworden. F. folgte den anderen. Von drinnen drang ein warmer Lichtschein durch die speckigen Fensterscheiben. F. ging auf die Eingangstür zu; die wenigen Menschen, die noch draußen standen, traten über die Schwelle und verschwanden im Innen. Zurück blieb ein hochgewachsener schmaler Mann mit einem dicken Buch unter dem Arm und einem Regenschirm in der Hand, der F. freundlich zunickte. In der Schankstube war es warm. Dampf, der von den langsam trocknenden Klamotten aufstieg, lag in der Luft und mischte sich mit schwerem Parfüm und dem beißenden Geruch von starkem Tabak. Geister.

 F. setzte sich an einen Tisch in der Ecke nahe dem Ausgang. Niemand hatte ihn bemerkt. Seine Augen suchten Emma. Sie saß am anderen Ende des Raums, den Kopf an die Schulter ihres Freundes gelehnt, der seinen Arm um sie gelegt hatte. F. nuschelte leise einen Fluch. Dann ließ er seinen Blick weiter wandern. Fast alle waren sie da, sein Bruder, sein Großvater, die Großmütter und auch seine Eltern. Pflichtbesuche waren das. Dieses ganze Pack konnte zur Hölle fahren. Er wäre nicht gekommen, aber Emma ...

 Paulsen, der Besitzer der Kneipe, trat vor, räusperte sich, begrüßte die Anwesenden und begann mit einer Anekdote. Irgendetwas mit einer Bar, Schicksal und Zufall und … F. ließ seine Gedanken wandern. Paulsen, ein Schrank von einem Mann, mit Händen groß wie Tellern und einer Stimme tief wie der Atlantik, war ein alter Freund des Großvaters. Vor fast einem halben Jahrhundert fuhren sie zusammen zur See, bis Paulsen einen Unfall hatte, bei dem er sich eine Verletzung am Bein zuzog, die ihn für den Rest seines Lebens humpeln ließ. Endlich war die Anekdote zu Ende. Paulsen hatte Tränen in den Augen. Diese ganze Veranstaltung war reinste Zeitverschwendung. Der Vater stand auf; erhob sein Glas, als wolle er einen Tost aussprechen, bekam aber kein Wort über die Lippen. Alle hoben ihre Gläser, manch einer trocknete seine Tränen und sie alle tranken. Dann begann Musik und nach und nach, als genug brennender Segen die Kehle hinab geflossen war, hoben auch die Gespräche an.

 F. saß unbeachtet in seiner Ecke. Er blickte auf die Menschen und das ganze Geschehen blieb ihm ein Rätsel. Spätestens jetzt musste doch jemand auf ihn aufmerksam werden. Niemand kam zu ihm herüber, um ihn mit Höflichkeitsfloskeln zu belästigen. Noch nicht einmal Emma schien sich für ihn zu interessieren. Sie saß bei ihrem idiotischen Freund, der eine verkniffene Miene aufgesetzt hatte, die an einen Frosch erinnerte, dem gerade klar geworden war, dass er nie ein Prinz werden würde, egal wie viele Königstöchter ihn küssten.

 F. zündete sich eine weitere Zigarette an. Er würde gehen, wenn ihn nicht einmal Emma hier haben wollte, das nahm er sich vor. Dabei hatte sie ihn doch gebeten zu kommen; wegen ihr saß er hier. Niemand bedachte ihn auch nur mit einem Blick und das kränkte ihn ein wenig. Es war, als wäre er für diese Leute gestorben.
 „Weil Sie für sie gestorben sind, mein Herr.“
 F. schrak aus seinen Gedanken. Er hatte nicht bemerkt, wie jemand von der Seite an seinen Tisch herangetreten war. Jetzt stand jener schmale Mann vor ihm, der ihm beim Eintreten in die Kneipe zugenickt hatte. F. starrte ihn an.
 „Sie sind tot, mein Herr“, sagte der Mann
 F. schüttelte den Kopf: „Wer sind Sie überhaupt?“
 „Oh, verzeihen Sie. Wie unhöflich von mir. Der Name ist ... nicht von Belang. Ich bin hier, um Sie über das weitere Verfahren in Kenntnis zu setzen.“
 Der Mann legte das schwere Buch, welches er unter dem Arm hatte, auf den Tisch und schlug es auf. Dann räusperte er sich und wollte gerade ansetzen fortzufahren als F. sich mit hoher Stimme feststellen hörte: „Sie sind der Sensenmann?“
 Der Mann runzelte kurz die Stirn und nickte schließlich: „Ja, mein Herr, wenn Sie so wollen.“
 F. schluckte schwer und ihm traten Tränen in den Augen: „Ich bin mit dem Freund meines Onkels her gekommen. … Ich habe Emma abgeholt. …“, F. gingen die Argumente aus. Mit einem Kopfschütteln fügte er hinzu: „Ich bin mit dem Bus zu Emma gefahren.“
 Der Mann wippte von seinen Fußballen auf seine Hacken.
 F. stotterte immer noch: „Aber Emma bat mich zu kommen, um … um …“
 Mit rollenden Augen beendete der Mann den Satz: „Sie bat Sie zur Beerdigung zu kommen, ja. Das Fräulein Emma wünschte sich, Sie wären bei ihr. Sie folgten dem Wunsch des Fräuleins, mein Herr. Sie wollten ihr in dieser, für sie schweren Stunde beistehen.“
 Der Mann in schwarz machte eine Kunstpause. Schließlich fuhr er beinahe beiläufig fort: „Sie verschliefen ihre eigene Beerdigung, mein Herr. Sie lagen im Auto und der Freund des werten Fräuleins, war an Ihrer statt bei ihr.“

 F. kratzte sich am Kopf und drückte seine Zigarette aus. Es war alles nur eine Frage der Zeit, das wusste er und über kurz oder lang käme alles wieder in seine gewohnten Bahnen, dessen war er sich sicher.

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