Zwei Schwestern
Ihre Finger flitzen wie Spinnen über die Tasten ihres
Laptops. Es ist schon spät, kurz vor Mitternacht. In ein paar Stunden muss sie
wieder aufstehen, sich zurecht machen und ins Büro fahren. Sie ist müde, ihre
Augen schmerzen schon seit Stunden und ihr Rücken kann durch kein Strecken der
Welt wieder eingerenkt werden. Doch sie schluckt diese Befindlichkeiten
herunter, stark will sie sein, mit einer dicken Haut. „Frage nicht lange warum,
mach es so wie man es dir sagt!“ Diese Weisheit hat sie in ihrer Kindheit
gelernt und diese Weisheit ist es, nach der sie lebe will.
Wie jeden Abend putzt sie sich exakt für fünf Minuten die
Zähne, schminkt sich sorgfältig ab, cremt ihre Haut mit einer nächtlichen
Pflegesalbe ein und geht dann, nachdem sie ihren Pyjama angezogen hat, ins
Bett. Es ist ein eingespielter Rhythmus, der sich seit Jahren fast unverändert
wiederholt.
Sie konnte sich nie an ihre Träume erinnern. Sie wunderte
sich nur selten darüber, sondern tat es stets mit einem Schulterzucken ab. Was
ihr in den letzten Monaten mehr Sorgen bereitete, war ihre konstante Müdigkeit.
Sie achtete normalerweise penibel darauf acht Stunden Schlaf in der Nacht zu
bekommen. Acht Stunden war die ideale Zeitspanne, in der sie am besten
funktionierte. Nur eine halbe Stunde zu viel oder zu wenig reichte aus, um
ihren Geist durcheinander zu bringen. Ihre Leistungsfähigkeit ließ nach und sie
spürte förmlich wie alles aus dem Ruder
lief.
Diese anhaltende, unbegründete
Müdigkeit machte sie nun nervös. Sie hatte bereits verschiedenste Ärzte
aufgesucht, doch bisher hatte ihr niemand helfen können. Es war frustrierend
und schrecklich einschüchternd. Doch sie tat, was sie immer tat: Sie folgte den
Anweisungen, die ihr gegeben wurden. Sie nahm jeden Morgen die Pillen, die ihr
der Arzt gegeben hatte, achtete auf ihre Ernährung, nur die Stressreduktion auf
Arbeit war schwer umzusetzen.
als die frau die bar betrat, wusste ich, dass sich die
aussichten um fast 1000 % verbessert hatten. V.d.f. – vor der frau – war der
abend mit alkohol, zigaretten und einstweiliger verzweifelung über die eigene
existenz, mit einer alltäglichen vertrautheit behaftet, eine langeweile, die
sich mit dem auftreten dieser durchschnittlich attraktiven frau in eine alles
versprechende aussicht auf möglichkeit verwandelte. Eine neue zeitrechnung, die
n.d.f – nach der frau – war angebrochen.
Sie setzte sich ans andere ende der bar und bestellte sich
einen whiskey. Den ersten kippte sie in einem zug herunter. Den zweiten trank
sie zur hälfte und zündete sich anschließend eine zigarette an. ihre bewegungen
waren fließend und bestimmt. Ich hatte nie zuvor eine frau auf diese art und
weise trinken oder rauchen sehen, und ich habe einige frauen gesehen, nur fürs
protokoll. Ich warf ihr also den einen oder anderen blick zu und versuchte so
ihre aufmerksamkeit zu gewinnen. Doch ihr interesse war nur gering. Der
grpßteil ihrer konzentration blieb auf ihren drink und ihre zigarette gerichtet.
Frauen wie sie in einer bar wie dieser, in der die gläser
dreckiger werden je länger der barkeeper sie abtrocknet, bleiben nicht allzu
lange unbeachtet. Die meisten der gäste hätten niemals den mut, eine frau wie
sie anzusprechen. Und nachdem sich alle an ihren anblick gewöhnt hatten,
kehrten die vorgänge auch sehr schnell in ihre normalen bahnen zurück. Die
trinker tranken und schwiegen. Es war alles sehr ruhig ohne aufregung oder
ansporn. Man betrank sich und wenn der pegel erreicht war, kehrte ein jeder in
seine welt zurück, aus der man für ein paar stunden geflüchtet war. So
verschwanden alle schatten um schatten, bis schließlich nur noch ein paar
wenige übrige waren, die verrücktesten und versehrtesten. Als auch die gegangen
waren, blieben nur noch sie und ich übrig – vom baarkeeper einmal abgesehen.
Die nachtgestalten, die so beschädigt waren, dass sie keinen ort kannten, zu
dem sie zurück kehren konnten. Ich war überrascht, dass sie scheinbar eine von
uns war, wenn auch noch nicht lange. Ihre narben mussten noch frisch sein,
sonst hätte sie verbeulter ausgesehen, wäre verrückter gewesen.
LETZTE RUNDE, MARTEN, raunte mir Paulsen von hinter dem
tresen zu, dann humpelte er zum schnapsschrank und goß mir einen ein. NOCH
EINEN FÜR DEN WEG.
Wir stießen an – AUF DICH UND DEINE KNEIPE, PAULSEN. Ich
rutschte von meinem barhocker herunter und setzte mich neben die
durchschnittlich schöne frau. NOCH EINEN WHISKEY?
„Er macht gerade seine Bar zu.“
PAULSEN, NOCH EINEN
FÜR DIE DAME. Der whiskey kam. UND EINEN FÜR MICH. Paulsen brummte, und
schenkte mir dann doch noch einen ein. Die frau und ich stießen an.
ICH HABE DICH HIER NOCH NIE GESEHEN. Sie zündete sich eine
kippe an. Paulsen wechselte den vollen aschenbecher und sie lächelte ihm
dankend zu. Sie hatte keine lust sich mit mir zu unterhalten, gab ausweichende
antworten und es dauerte nicht lange da schwiegen wir uns erneut an. ich nippte
an meinem glas und sie trank ihres aus.
Gedanken
keines Nachtwächters: Es sind die abende, die einen umbringen. Sie machen dich
weiser; all die dinge die man im dunkeln erlebt, können niemals bei licht
geschehen. Ich habe noch nie davon gehört, dass ich zwei menschen bei
tageslicht in einander verliebten. Ich kenne auch kaum eine gruselgeschichte,
die am tag spielt. Alles geschieht in der nacht. Es ist etwas geheimnisvolles,
böses und romantisches an ihr, etwas lustvolles, animalisches und warmes. (O-Ton:
„HAHAHA.“)
Am tag tötet die arbeit und die
routine unseren geist, stumpft ihn ab, wie es keine droge vermögen würde.
Unsere leiber quillen auf und wir versuchen sie durch sport und disziplin im
zaum zu halten. Der tag ist analytisch, anmutig und klar. Er gehört den
erfolgreichen, ergeizigen, demütigen, den heiligen und den weisen, die aufbauen
und kreieren, die schaffen.
Die tiefen stunden der naht
sind jenen nachtfalken wie mir, der frau und Paulsen vorbehalten. Denjenigen,
die in den bars sitzen und trinken, denjenigen, die sich durch die dunklen
straßen schieben und dabei die gehstiege ausmessen. Wir brauchen die nächte und
die nächte brauchen uns. Es ist ein stillschweigender deal. Wenn die sonne am
horizont aufsteigt, verschwinden wir. Jene, die nicht verschwinden, werden vom
tag als affront gebranntmarkt; sie können niemals dazu gehören, bleiben
ausgestoßene. Tag und nacht sind zwei schwestern und wir alle sind ihre kinder.
Ich stand am pissoir als mir diese gedanken kamen. Ich wäre
gerne neben der frau sitzen geblieben, doch die natur verlangte ihr recht. Ich
schwankte und stützte mich mit einer hand an der wand ab.
Als ich das klo verlassen wollte, stand sie vor mir. Drückte
mich in eine der kabinen, zog meine hose herunter und begann an mir zu
arbeiten. Ich war vollkommen überfordert. Sie brauchte nicht lange für mich.
Als sie fertig war, verschwand sie, ohne ein weiteres wort.
Als ich meine hose wieder oben hatte und zu Paulsen an die
theke trat, hatte sie schon bezahlt und war fort. Es war seltsam, aber gut.
Traurig auch irgendwie, kalt und abgeklärt, so nichtssagend, wie eine bockwurst
an einer autobahntankstelle irgendwo in mittelhochdeutschland.
Ich sah sie ein einziges mal wieder, zumindest glaube ich,
dass sie es war. Auf der friedrichstraße, sie lief an mir vorbei, in einem
businessbluse mit elegantem jacket, haare hochgesteckt, tasche, schicke pumps,
enger schlauchrock. Was für eine frau. Ich begrüßte sie, freute mich ehrlich
sie zu sehen, ganz ohne einen anzüglichen hintergedanken. Sie blickte mich
fragend an: „Kennen wir uns?“
Ich sah, in ihre augen, dass jene frau, die hier vor mir
stand, nichts mit dem menschen zu tun hatte, den ich damals in Paulsens Kneipe
traf. Es waren zwei grundverschiedene personen, die zwei seiten einer münze.
Ich entschuldigte mich, ich hätte sie verwechselt. Ich log
und fühlte mich an „I don’t believe you“ von Dylan erinnert.
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