Zwei Schwestern

"Zwei Schwestern" a short story by Wolf-Peter Arand
Ihre Finger flitzen wie Spinnen über die Tasten ihres Laptops. Es ist schon spät, kurz vor Mitternacht. In ein paar Stunden muss sie wieder aufstehen, sich zurecht machen und ins Büro fahren. Sie ist müde, ihre Augen schmerzen schon seit Stunden und ihr Rücken kann durch kein Strecken der Welt wieder eingerenkt werden. Doch sie schluckt diese Befindlichkeiten herunter, stark will sie sein, mit einer dicken Haut. „Frage nicht lange warum, mach es so wie man es dir sagt!“ Diese Weisheit hat sie in ihrer Kindheit gelernt und diese Weisheit ist es, nach der sie lebe will.

Wie jeden Abend putzt sie sich exakt für fünf Minuten die Zähne, schminkt sich sorgfältig ab, cremt ihre Haut mit einer nächtlichen Pflegesalbe ein und geht dann, nachdem sie ihren Pyjama angezogen hat, ins Bett. Es ist ein eingespielter Rhythmus, der sich seit Jahren fast unverändert wiederholt.

Sie konnte sich nie an ihre Träume erinnern. Sie wunderte sich nur selten darüber, sondern tat es stets mit einem Schulterzucken ab. Was ihr in den letzten Monaten mehr Sorgen bereitete, war ihre konstante Müdigkeit. Sie achtete normalerweise penibel darauf acht Stunden Schlaf in der Nacht zu bekommen. Acht Stunden war die ideale Zeitspanne, in der sie am besten funktionierte. Nur eine halbe Stunde zu viel oder zu wenig reichte aus, um ihren Geist durcheinander zu bringen. Ihre Leistungsfähigkeit ließ nach und sie spürte  förmlich wie alles aus dem Ruder lief.

Diese anhaltende, unbegründete Müdigkeit machte sie nun nervös. Sie hatte bereits verschiedenste Ärzte aufgesucht, doch bisher hatte ihr niemand helfen können. Es war frustrierend und schrecklich einschüchternd. Doch sie tat, was sie immer tat: Sie folgte den Anweisungen, die ihr gegeben wurden. Sie nahm jeden Morgen die Pillen, die ihr der Arzt gegeben hatte, achtete auf ihre Ernährung, nur die Stressreduktion auf Arbeit war schwer umzusetzen.

als die frau die bar betrat, wusste ich, dass sich die aussichten um fast 1000 % verbessert hatten. V.d.f. – vor der frau – war der abend mit alkohol, zigaretten und einstweiliger verzweifelung über die eigene existenz, mit einer alltäglichen vertrautheit behaftet, eine langeweile, die sich mit dem auftreten dieser durchschnittlich attraktiven frau in eine alles versprechende aussicht auf möglichkeit verwandelte. Eine neue zeitrechnung, die n.d.f – nach der frau – war angebrochen.

Sie setzte sich ans andere ende der bar und bestellte sich einen whiskey. Den ersten kippte sie in einem zug herunter. Den zweiten trank sie zur hälfte und zündete sich anschließend eine zigarette an. ihre bewegungen waren fließend und bestimmt. Ich hatte nie zuvor eine frau auf diese art und weise trinken oder rauchen sehen, und ich habe einige frauen gesehen, nur fürs protokoll. Ich warf ihr also den einen oder anderen blick zu und versuchte so ihre aufmerksamkeit zu gewinnen. Doch ihr interesse war nur gering. Der grpßteil ihrer konzentration blieb auf ihren drink und ihre zigarette gerichtet.

Frauen wie sie in einer bar wie dieser, in der die gläser dreckiger werden je länger der barkeeper sie abtrocknet, bleiben nicht allzu lange unbeachtet. Die meisten der gäste hätten niemals den mut, eine frau wie sie anzusprechen. Und nachdem sich alle an ihren anblick gewöhnt hatten, kehrten die vorgänge auch sehr schnell in ihre normalen bahnen zurück. Die trinker tranken und schwiegen. Es war alles sehr ruhig ohne aufregung oder ansporn. Man betrank sich und wenn der pegel erreicht war, kehrte ein jeder in seine welt zurück, aus der man für ein paar stunden geflüchtet war. So verschwanden alle schatten um schatten, bis schließlich nur noch ein paar wenige übrige waren, die verrücktesten und versehrtesten. Als auch die gegangen waren, blieben nur noch sie und ich übrig – vom baarkeeper einmal abgesehen. Die nachtgestalten, die so beschädigt waren, dass sie keinen ort kannten, zu dem sie zurück kehren konnten. Ich war überrascht, dass sie scheinbar eine von uns war, wenn auch noch nicht lange. Ihre narben mussten noch frisch sein, sonst hätte sie verbeulter ausgesehen, wäre verrückter gewesen. 

LETZTE RUNDE, MARTEN, raunte mir Paulsen von hinter dem tresen zu, dann humpelte er zum schnapsschrank und goß mir einen ein. NOCH EINEN FÜR DEN WEG.

Wir stießen an – AUF DICH UND DEINE KNEIPE, PAULSEN. Ich rutschte von meinem barhocker herunter und setzte mich neben die durchschnittlich schöne frau. NOCH EINEN WHISKEY?
„Er macht gerade seine Bar zu.“
PAULSEN, NOCH EINEN  FÜR DIE DAME. Der whiskey kam. UND EINEN FÜR MICH. Paulsen brummte, und schenkte mir dann doch noch einen ein. Die frau und ich stießen an.
ICH HABE DICH HIER NOCH NIE GESEHEN. Sie zündete sich eine kippe an. Paulsen wechselte den vollen aschenbecher und sie lächelte ihm dankend zu. Sie hatte keine lust sich mit mir zu unterhalten, gab ausweichende antworten und es dauerte nicht lange da schwiegen wir uns erneut an. ich nippte an meinem glas und sie trank ihres aus.

Gedanken keines Nachtwächters: Es sind die abende, die einen umbringen. Sie machen dich weiser; all die dinge die man im dunkeln erlebt, können niemals bei licht geschehen. Ich habe noch nie davon gehört, dass ich zwei menschen bei tageslicht in einander verliebten. Ich kenne auch kaum eine gruselgeschichte, die am tag spielt. Alles geschieht in der nacht. Es ist etwas geheimnisvolles, böses und romantisches an ihr, etwas lustvolles, animalisches und warmes. (O-Ton: „HAHAHA.“)
Am tag tötet die arbeit und die routine unseren geist, stumpft ihn ab, wie es keine droge vermögen würde. Unsere leiber quillen auf und wir versuchen sie durch sport und disziplin im zaum zu halten. Der tag ist analytisch, anmutig und klar. Er gehört den erfolgreichen, ergeizigen, demütigen, den heiligen und den weisen, die aufbauen und kreieren, die schaffen.
Die tiefen stunden der naht sind jenen nachtfalken wie mir, der frau und Paulsen vorbehalten. Denjenigen, die in den bars sitzen und trinken, denjenigen, die sich durch die dunklen straßen schieben und dabei die gehstiege ausmessen. Wir brauchen die nächte und die nächte brauchen uns. Es ist ein stillschweigender deal. Wenn die sonne am horizont aufsteigt, verschwinden wir. Jene, die nicht verschwinden, werden vom tag als affront gebranntmarkt; sie können niemals dazu gehören, bleiben ausgestoßene. Tag und nacht sind zwei schwestern und wir alle sind ihre kinder.

Ich stand am pissoir als mir diese gedanken kamen. Ich wäre gerne neben der frau sitzen geblieben, doch die natur verlangte ihr recht. Ich schwankte und stützte mich mit einer hand an der wand ab. 

Als ich das klo verlassen wollte, stand sie vor mir. Drückte mich in eine der kabinen, zog meine hose herunter und begann an mir zu arbeiten. Ich war vollkommen überfordert. Sie brauchte nicht lange für mich. Als sie fertig war, verschwand sie, ohne ein weiteres wort.
Als ich meine hose wieder oben hatte und zu Paulsen an die theke trat, hatte sie schon bezahlt und war fort. Es war seltsam, aber gut. Traurig auch irgendwie, kalt und abgeklärt, so nichtssagend, wie eine bockwurst an einer autobahntankstelle irgendwo in mittelhochdeutschland.

Ich sah sie ein einziges mal wieder, zumindest glaube ich, dass sie es war. Auf der friedrichstraße, sie lief an mir vorbei, in einem businessbluse mit elegantem jacket, haare hochgesteckt, tasche, schicke pumps, enger schlauchrock. Was für eine frau. Ich begrüßte sie, freute mich ehrlich sie zu sehen, ganz ohne einen anzüglichen hintergedanken. Sie blickte mich fragend an: „Kennen wir uns?“

Ich sah, in ihre augen, dass jene frau, die hier vor mir stand, nichts mit dem menschen zu tun hatte, den ich damals in Paulsens Kneipe traf. Es waren zwei grundverschiedene personen, die zwei seiten einer münze.

Ich entschuldigte mich, ich hätte sie verwechselt. Ich log und fühlte mich an „I don’t believe you“ von Dylan erinnert.

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