Der Penny


"Der Penny" a short story by Wolf-Peter Arand
Ich trage seit einer ganzen Zeit einen amerikanischen Penny in meiner Hosentasche. Was macht so einen Penny besonders, mag man da fragen. Nun, jedes Kind weiß, dass die Kleingeldmünzen der USA keine Pennys sondern Cents sind. Insofern ist ein amerikanischer Penny schon etwas Besonderes. Entscheidender als das geographische Kuriosum, ist allerdings die Geschichte, wie ich zu diesem Penny kam. Sie ist tatsächlich einzigartig und soll mich daran erinnern nicht zu lügen. In meinem Fall ist das eine heikle Angelegenheit. Sagt schließlich schon eine ganze Menge über mein Verhältnis zum Lügen aus, wenn ich ein kleines Kupferstück brauche, um mich daran zu erinnern, es nicht zu tun.

Damit die Geschichte Sinn macht, muss man sich Folgendes vorstellen: Ich lüge für gewöhnlich, wo und wie ich nur kann. Wenn mich eine Frau fragt, ob sie zu dick sei, sage ich, Nein, du siehst blenden aus. Wenn mich jemand fragt, wo die-und-die Straße sei, dann erlüge ich den Weg dahin, manchmal, selbst wenn ich weiß, wo die-und-die Straße wäre. Ich erfinde in Diskussionen Anekdoten und Begebenheiten. Ich sage mir stets, dass ich nicht lügen würde, um mich zu profilieren, sondern um andere nicht zu verletzen oder zu enttäuschen. Das ist natürlich Quatsch. Selbstverständlich ist die Frau dick – Ich will lediglich mit ihr ins Bett, oder dass sie mich in Ruhe lässt. Ich erzähle dem Suchenden lieber irgendwas, nicht um ihm die Möglichkeit zu geben die Stadt kennenzulernen, sondern um nicht zugeben zu müssen, dass ich selber keine Ahnung habe, wo ich bin. Und schlussendlich glänze ich lieber mit einer Lüge, anstatt nicht im Mittelpunkt zu stehen. Ich lüge auch nicht, damit sich irgendwer besser fühlt. Ich lüge einzig für mich und meinen eigenen Vorteil oder eben für mein eigenes Vergnügen.

Das ist kein sehr ehrenwertes Verhalten, ging mir vor einiger Zeit einmal durch den Kopf. Damals saß ich mit einem sehr hübschen Mädchen in einer Bar und versuchte in meinem Suff an ihre Brüste zu kommen, ohne eine gehörige Ohrfeige dafür zu kassieren. Ich machte also das, was ich am besten konnte, ich log; erzählte ihr, ich sei Architekt, dachte mir Namen von Gebäuden aus, die ich angeblich designt hätte, und gab ihr einen Drink nach dem anderen aus. Als ich kein Geld mehr hatte, klaute ich einem Betrunkenen, der auf dem Klo beim Kotzen eingeschlafen war, noch ein Bündel 10ner aus dem Portemonnaie; der Typ würde sich am nächsten Tag eh nicht mehr daran erinnern können, wie viel er tatsächlich versoffen hatte. 

Meine Scharade funktionierte tatsächlich. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass mir nicht sehr viel anderes übrig blieb. Wenn man ein Typ ist, bei dem es im bisherigen Leben zu wenigen bis keinen nennenswerten Erfolgen reichte, ist die erlebte Zeit sicherlich ein großer Spaß gewesen (saufen, rumhängen und den lieben, langen Tag nichts Erfolgreiches machen IST entspannend bis lustig), aber beeindrucken tut das niemanden. Ab einem gewissen Alter, wenn der Spaß dann vorbei ist, bleiben die guten Frauen aus. Das ist kein schleichender Prozess, sondern geschieht so ziemlich von heute auf morgen. An dem einen Abend ist es Paris im Herbst, am anderen Berlin im Winter. Ich denke das hängt mit dem Alter zusammen und vielleicht auch mit der biologischen Uhr der Frauen; wer will schon einen Versager als Mann haben, selbst wenn man den liebt? Das ist ab einem gewissen Alter eben nicht mehr tragbar. Man(n) macht sich dann nur noch lächerlich.

Folgende Situation: Barbecue mit alten Freunden. Frau A zu B und C: Was machen eure Männer?
Frau B: Meiner ist Manager bei XY. Das ist ein Internet-Start-Up, das gerade voll durch die Decke geht.
Frau A: Ja, hab ich gehört. Meiner ist Filialchef von (Pharmazieunternehmen x). Was soll Frau C, die einen Mann hat, den sie zwar liebt, aber der nichts Vergleichbares in seinem bisherigen Leben auf die Reihe bekommen hat, dazu sagen?: Joa, der Nico ist aber ein ganz doll lieber Kerl.
Irgendwann ist jeder all die Entschuldigungen und Ausreden für seinen Partner leid. Daher werden all die lieben aber perspektivlosen Typen irgendwann gegen solche mit beruflichen Perspektiven und Sicherheiten ausgetauscht.

Wenn also die ganzen guten Frauen weg sind, der Kerl ohne Perspektive – ich – aus Verzweiflung darüber angefangen hat zu saufen, begann gar nichts mehr zu machen, und als Folge davon noch erfolgloser wurde, darf dieser Kerl nicht mehr allzu wählerisch sein. Normalerweise bekommt diese Sorte Mann, also jemand wie ich, dann die Verrückten, Versehrten, Kranken und Verlassenen ab; die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, diejenigen, die sonst niemanden mehr haben, der sie ernst oder in den Arm nimmt. Sollte es sich trotz aller Wahrscheinlichkeit doch ergeben, dass da ein Mädel von der hellen Seite dabei sein sollte, dann ist das nur kurzlebig und nur mit einer Lüge zu erreichen. Dann muss man das Glück so lange an der Gurgel gepackt halten, wie es geht, denn schon bald ist man es wieder los. Ich kenne nur eine Person, die es geschafft hat, einen solchen Jackpot festzunageln. Wie er das gemacht hat, ist mir bis heute nicht ganz klar. Ich denke heute kaum mehr an diesen Freund; vielleicht weil ich selber zufriedener bin, vielleicht weil ich aufgegeben habe. Wer weiß und wen interessiert’s? Damals ging es mir sehr häufig durch den Kopf. Ich war richtig neidisch kann man sagen. Heute bin ich der Meinung, dass mein Freund möglicherweise einfach etwas Gutes tat und ihm darum Gutes geschah. Damals kam ich zu einem anderen Schluss. Zwar brauchte es eine Weile, aber nach sieben Bier und sechs Whiskey, die mir beim Denken, aber nicht beim Sprechen halfen, war ich überzeugt, der Sache auf den Grund gekommen zu sein. Es war so einfach. Er hat einfach gelogen, das ist das ganze Geheimnis, dachte ich mir.

Als ich mit dem Mädchen in der Bar saß, ging mir eben jener Sachverhalt erneut durch den Kopf. Doch erst als ich am nächsten Morgen in meiner eigenen Kotze in irgendeiner Seitenstraße aufwachte, kamen mir erste Zweifel an meinem Verhalten. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass ich vom Klo kam und mit dem Geld, das ich dem Betrunkenen abgenommen hatte, für die Dame und mich eine neue Runde bestellte. Danach war alles schwarz.

Ich wankte zur Bar zurück und da es einen von den guten war, öffnete sie schon um 12 Uhr mittags. Der Barkeeper konnte mir nicht helfen. Er wusste lediglich, dass irgendein Irrer am Vorabend ausgeflippt war, nachdem ihn einer der Gäste unsanft am Kragen gepackt hatte. 

Der Irre fing eine Schlägerei mit dem Typen an. Überall Blut und zerschlagene Gläser, ich habe heute Morgen noch ein paar Reste davon beseitigt. Die Beiden haben sich eine ganze Zeit bearbeitet. Bis Paulsen, einer der auch hier arbeitet, sie voneinander trennen konnte, hat dabei aber auch fies eine abbekommen. Ich sah ihn heute, als ich die Bar aufschloss. Riesen Cut über dem Auge.

Der Barkeeper stellte mir ein frisch Gezapftes auf den Tresen, er blühte richtig auf. 

2,80. Du weißt ja noch gar nicht alles. Die Schnecke, die, warum auch immer, mit dem Irren rum hing – hübsches Ding wurde mir gesagt, wohl richtig schnieke – nahm den blutenden Typen mit sich nach Hause, faselte was, wie brutal und gemein die Menschen doch wären und wie es sein könnte, solch einen begnadeten Künstler anzufallen. Er wäre doch Architekt und alles. Total durchgeknallt. Die Feine und der Soziopath, wenn du mich fragst.

Ich nippte an meinem Bier und begann mich dunkel zu erinnern. Wir fuhren ans andere Ende der Stadt. Zu ihr. Erst kümmerte sie sich um eine Kopfverletzung, dann um den Rest. Ich war total betrunken und glaube, dass ich ihr aufs Bett kotzte, nachdem wir fertig waren und sie unter der Dusche stand. Anschließend nahm ich meine Klamotten, schiffte in die Topfpalme und verpisste mich klammheimlich. Zum Glück war ich so geistesgegenwärtig, mir noch ein paar Scheine aus ihrer Geldbörse zu ziehen. Auf der Straße kaufte ich mir im nächsten Späti eine Flasche Whiskey und begann diese leer zu machen. Ich hatte gerade den ersten Schluck getan und grübelte darüber, wie ich am besten wieder in die Bar zurückkäme, schließlich war der Abend noch jung, als ein Paar Stiefel in meinem Sichtfeld auftauchten und eine Zigarette auf dem Boden austraten. Ich schaute auf und da stand tatsächlich der Typ aus der Bar vor mir, der fleischgewordene Geist der vergangenen Weihnacht. Er griff zu mir hinab und zog mich auf meine Beine, dabei rutscht mir die frisch angebrochene Whiskeyflasche aus der Hand und zerschellte auf dem Boden. Während ich noch dem verlorenen Gerstenglück nachtrauerte, begann mich der Typ bereits mit seinen Fäusten zu bearbeiten. Er schlug mir dreimal so hart in den Magen, dass ich würgend zusammensackte. Ich kotze auf den Gehsteig und mir wurde kurz schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, saß ich auf der Rückbank eines Autos; links und rechts von mir zwei Typen, die mich mit einem abfälligen Blick bedachten, als sie merkten, dass ich wieder zu mir kam.

Herr Kommissar, sagte einer von ihnen und der Mann auf dem Beifahrersitz drehte sich zu mir herum. Es war der Kerl aus der Bar. In was für eine Scheiße war ich jetzt wieder hineingeraten? Waren das Bullen? Hatte ich einen Verdeckten bestohlen und verprügelt? Von meinem Standpunkt aus sah die ganze Sache in jedem Fall sehr finster aus, ganz gleich, wer die waren. Der Typ auf dem Beifahrersitz zog eine Spritze hervor und lächelte grimmig. So eine große, alte Spritze, wie sie in diesen 50er Jahre B-Movies benutzt werden, aus Metall und Glas, mit drei fingergroßen Ringen an dem einen und einer 10cm langen Kanüle an dem anderen Ende. 

Hier drin war das Konzentrat eines hochwirksamen Giftes. Ich habe es eigenhändig designt. In ein paar Minuten werden deine Muskeln beginnen nach und nach ihre Funktion einzustellen. Als Letztes wird Ihr Herz aufhören zu schlagen. Das Schöne ist, Sie werden alles miterleben, versprochen.

Ich begriff kein Wort, von dem was der Typ sagte. Wie kann ich denn nur von einer Kneipenschlägerei, über Sex und Whiskey in einen Wagen mit Gestapo-Fratzen und Designergiftkonzentraten in 50er Jahre Spritzen kommen?

W. zermartern Sie sich nicht Ihren limitierten Verstand. Wir wissen, wie Sie Ihr Leben führen.

Das wurde ja immer besser. Was ging diese schlechten mein Leben an?

Sie sind ein Lügner, Dieb und Schläger und wir werden Ihrem Treiben ein Ende setzen. Endgültig. Für immer und ewig.

Meine Zunge versagte ihren Dienst und alles, was ich zustande brachte, war Abrrghrrra. Der Typ auf dem Beifahrersitz beugte sich zu mir herab. 

Sehen Sie diese zwei Pennys? Mit ihnen werden Sie den Fährmann bezahlen. Das ist unsere Gabe an Sie. 

Ich hätte dieses Faschistenarschloch am liebsten angespuckt, aber ich konnte kaum mehr meine Augen offen halten. Das Sichtfeld wurde erst dunkler und dann sehr hell. Das Nächste, an das ich mir erinnerte, war das Erwachen in der Gasse nahe der Bar.

Von alledem erzählte ich dem Barkeeper nichts. Ich griff in meine Tasche, und als ich sie wieder hervor holte, lagen drei Euro darin … und zwei Pennys. Ich warf die drei Mark auf den Tresen und steckte die zwei Pennys in meine Tasche zurück. 

Vor ein paar Monaten schenkte ich einen der Pennys meiner kleinen Schwester, nachdem ich sie beim Lügen ertappte. Den anderen trage ich Tag für Tag in meiner Tasche und versuche nicht zu lügen. Das klappt nicht immer. Wie gesagt, ich lüge auch weiterhin, wo und wie ich kann, aber der Penny verhindert, dass ich es übertreibe; in gewisser Weise versuche ich für alles Schlechte, auch etwas Gutes zu tun. Es scheint zu funktionieren, denn die vier Gestapogeister der vergangenen Weihnacht in ihrem Wagen habe ich seitdem nicht mehr getroffen.

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