Geister
Ich sah die größten Geister meiner Zeit, die zerschlagen
durch die Nächte drängten,
Die niemals
auch nur für einen Moment zögerten, um nach allem zu verlangen,
Alles und nicht nur ein Job war zu ertragen,
Die durch die Nächte Kreuz-, Schöne- und P-Bergs tranken,
lange bevor es jemand anderes tat,
Die sich niemals verkauften und lieber an alten Knochen
kauend vor Hunger dahinsiechten,
Die, wie Hunde, durch die Stunden kamen, am Tage schlafend
und des Nachts jagend,
Die den Mond der Reklametafeln erbarmungswürdig anbellten,
Und die, in der Vergessenheit ihrer Apartments, so lange zu
den stampfenden Beats des Elektroswings heulten, bis ihre Nachbarn sich vor Wut
die Augen ausrissen,
Die auf jedem Fest tanzten, so lange man sie ließ,
Die auf jeder Feier saßen und redeten, so lange jemand es
hören wollte,
Die es nicht interessierte, ob es jemanden interessierte,
Die alles zu verstehen im Stande waren, und sich dafür
entschieden, es nicht zu tun,
Die an den Universitäten schliefen, weil der Rest ihres
Lebens ohne Schlaf auskommen musste,
Die niemals zu etwas dazugehören wollten und endlos lange
über alles debattierten,
Die liebten und liebten und liebten, während sie alles um
sich verbrannten,
Die sich hingebungsvoll hassten, während sie in der Kälte
ihrer Wohnungen erfroren,
Die niemals nur einen Moment des puren Glücks erleben
konnten, weil sie die stinkenden Kloaken ihrer Welt in ihrer unverhüllten
Erbarmungslosigkeit erkannten,
Die sich unerschütterlich weigerten, die Schwänze jener zu
lutschen, die es nicht verdienten,
Die sich ihre Strings bis unter die Achseln zogen, während
sie Präsentationen über Marktentwicklung hielten in den vornehmsten Unternehmen
der Stadt,
Die sich freiwillig von allem abwandten, was Sicherheit und
Konvention eintätowiert hatte, einzig weil es für sie richtig war,
Die sich entschieden, eine Person für immer zu lieben, weil
es für sie richtig war,
Die alle verlachten, die sich mit zwanzig in den
atombetriebenen Vorhöllen der Speckgürtel einrollten,
Die ein Leben aus dem Koffer der
Stakkatogleichschrittanordnung vorzogen,
Die unermüdlich für eine bessere Welt brannten und sich
dafür öffentlich kastrierten,
Die in jeder Sekunde zu sterben bereit waren,
Die nicht nur erfolglos mit dem Gedanken an Suizid spielten,
Die jeden Tag als Last empfanden und ihm lauthals ins
Gesicht spuckten,
Die das Konzept von Respekt nie verstanden,
Die das Konzept von Schubladen nie verstanden und lieber den
ganzen Schreibtisch zerschlugen,
Die Symbole und verdrehte Sätze an ihre Zimmerwände
kritzelten und ihre Verträge mit Blut unterzeichneten,
Die in den U-Bahnen einschliefen, weil sie nicht wollten,
dass die Nächte endeten,
Die am Richard-Wagner-Platz um acht Uhr Morgens erwachten
und den Schulkindern, Pendlern und Faschisten vor die Füße kotzten,
Die auf den Dächern tanzten und niemals „Eines Tages werde
ich …“ sagten,
Für die jede Sekunde, die nicht erfüllt war vom Feuer ihrer
Jugend, verschwendet war,
Die den Ruf der Straße hörten und nicht anders konnten, als
ihm aus vollem Herzen zu antworten,
Die alle Konsequenzen bereitwillig akzeptierten, um für
immer zu brennen, brennen, brennen, brennen, brennen,
Die ihre Sätze mit „definitiv“ beendeten und niemals
zögerten, um ihren Worten Taten folgen zu lassen,
Die wortlose Poesie verfassten und mit ihren körpereigenen
Lauten die Menschen aufscheuchten,
Die sich nicht scheuten, inspiriert zu sein und endlos lange
Gedichte als Verneigung vor ihren toten Helden zu schreiben, selbst und gerade
dann, wenn ihre Klingeltonkritiker ihnen mangelnde Avantgarde und
nicht-existente Inspiration vorwarfen,
Die ihre Freunde mehr schätzten als sich selber,
Die auf alles fluchten und auf alles schworen, wie es ihnen
gerade passte,
Die niemals etwas ernst nehmen konnten, insbesondere nicht
sich selbst,
Die Abende damit verbrachten zu rauchen, zu trinken und
ergebnislos zu philosophieren, in verstaubten Küchen mit überquellenden
Aschenbechern und Whiskey aus Honiggläsern,
Die Hand in Hand tanzend die leeren nächtlichen Straßen des
Prenzlauer Berges hinab sprangen und sich über die sich aus den Fenstern ergießenden
Anfeindungen der weltoffenen und toleranten Anwohner amüsierten,
Die Äpfel aus Supermärkten klauten, weil sie glaubten, dass
es abscheulich sei, Obst in Kisten eingepfercht zu halten,
Die wußten, dass sie verrückt waren und die ihre Idiotie nie
irritierte,
Die mit geschlossenen Augen jeden Song, wild die Arme
schlagend, mitsingen konnten,
Die erbarmungslos hart wirkten, wenn das Licht in einem
bestimmten Winkel ihre engelsgleichen Gesichter beschien,
Die durch die finstersten Straßen Neuköllns gingen und
niemals Schräg angesehen wurden,
Die über die wichtigtuerischen Besserwisser ebenso lachten,
wie über Punks, Hippies, Nazis, Kinder, Geschäftsleute, Katholiken,
Protestanten, Juden, Moslems, Hindus, Buddhisten, Tote, Lebende, Frauen,
Männer, Schwule, Lesben, Transgender, Heteros, Hundemenschen, Katzenmenschen,
Menschenmenschen, Neandertaler, Fahrradfahrer, klitoralen, marginalen,
retrorektalspektralen, ökolateralen, phallusalen Nonsens,
Die an nichts glaubten, außer an den neuen Tag und dessen
Möglichkeiten,
Die sich nie zu schade für harte Arbeit waren, und jeden Job
annahmen, so lange er in ihren Zeitplan passte,
Jene, die nur selten Jobs, aber dafür immer Zeit für ihre
Lieben hatten,
Die ihr Geld für Drogen, Whiskey, Döner, Bier, Wein, Filme,
Bücher und Platten ausgaben,
Die in allem mehr sahen, als bloß die Summe seiner
Einzelteile,
Die ohne Vorwarnung in die entferntesten Winkel der Welt
flohen, weil ihnen die Luft in Berlin zu drückend wurde,
Die fünf Jahre bewiesen, dass sie nicht pfeifen konnten, und
trotzdem dafür geliebt wurden,
Die sich weigerten, dem corporate way of modern life seine
Opfergaben darzubringen und dafür mit gesellschaftlicher Ignoranz bestraft
wurden,
Die sich um Mitternacht in Pankow wiederfanden und Parolen
aus Monty Python Filmen an die Häuserwände schmierten,
Die Theaterstücke ausbuhten, während alle anderen Gäste sie
über alles abfeierten,
Die den Unterschied zwischen dreiviertel vier und viertel
vor vier anhand ihrer leeren Gläser maßen und keinen Unterschied feststellen
konnten,
Die das Konzept von Geld nie verstanden und es als
lächerlich ansahen,
Die ihre Stücke öffentlich vernichteten, weil ihnen die
Leute applaudierten,
Die am BER auf die Ankunft der ersten Flugzeuge warteten und
an Alkoholvergiftung starben, bevor sie auch nur eines sahen,
Die hysterisch gackernd in Zügen von Görlitz nach Berlin
fuhren und sich im abklingenden Rausch der vorhergegangenen Nacht sonnten,
Die sich öffentlich über alles lustig machten,
Deren Gaumen nach zu viel Suff nicht mehr abschwoll, bis sie
wieder vollkommen berauscht und glücklich über die Böden rollten,
Die, statt an Bahnhöfen zu warten, sich lieber in den
umliegenden Sexshops, Handyshops, Rundfunkgeräteshops, Einzelhandelsshops,
Schlüpfershops und Bockwurstständen herumtrieben,
Die in jedem Haus, das sie betraten, sich auf den Boden
warfen und laut den Gott des Todes anriefen, alle Ungläubigen unverzüglich zu
erschlagen – die meisten Anwesenden reagierten pikiert,
Die zwei Tage durchtranken, nur um festzustellen, ob sich
dadurch die Rotation des Mondes verändere, sobald sie ihre Augen schlössen,
Die lachten und lachten und lachten und lachten, bis ihnen
das Zwerchfell riß und die Gesichtsmuskeln versagten,
Die auf den Demonstrationszügen tanzten, während die
Müllcontainer und Straßenbarrikaden brannten und ihre gespenstischen Schatten
warfen,
Die sich für fünf Tacken unter einen sovjetischen Panzer
legten und dabei die Passanten des Ehrenmahls zum Ehrenmal um Hilfe anriefen,
Die sich in den Porzelangott salutierend erbrachen, jedes
Mal, wenn ihnen jemand von ihren Investmenthedgfondsgötzen predigte, oder ihren
Perspektivhülsen, oder ihren Präventionsopiaten,
Die den Gedanken an ein Gefängnis des Geistes als
unerträglich empfanden und lieber die Selbstauslöschung wählten,
Die als Nachtschwärmer zu den Klängen von jazz und Jazz und
JAZZ Flickflack schlagend durch die Weddinger Nacht sprangen,
Die im Sonnenuntergang auf den Dächern standen und riefen:
„Hollallallaritimitikrababudaha!“, den Rhythmus der Welt auf ihren Bäuchen und
mit ihren Händen trommelnd,
Die fest daran glaubten, dass sie ewig leben würden, so
lange sie brannten unter dem rhythmischen Klackern der Trafohäuschen und dem
tackernden Klicken der Straßenlichter,
Die starben, sterben werden in Einsamkeit, vergessen von der
Welt, doch nie von ihren Freunden – Pech hat der letzte,
Die sagten:
„Wir können alles und alles können wir sein!“ Für immer, immer, immer und
niemals mit einem Kompromiss, oder nur einen Moment des Zweifels,
Um zu
leuchten durch die Zeit und an allen Festen der Erde rüttelnd,
Vielleicht
viel zu radikal,
Viel zu
perspektivlos,
Aber immer
mit einem vollen Herzen,
Und niemals
bereuend,
Bis zum
Ende.
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