Geister


"Geister" by Wolf-Peter Arand

Ich sah die größten Geister meiner Zeit, die zerschlagen durch die Nächte drängten,
Die niemals auch nur für einen Moment zögerten, um nach allem zu verlangen,

Alles und nicht nur ein Job war zu ertragen,
Die durch die Nächte Kreuz-, Schöne- und P-Bergs tranken, lange bevor es jemand anderes tat,
Die sich niemals verkauften und lieber an alten Knochen kauend vor Hunger dahinsiechten,
Die, wie Hunde, durch die Stunden kamen, am Tage schlafend und des Nachts jagend,
Die den Mond der Reklametafeln erbarmungswürdig anbellten,
Und die, in der Vergessenheit ihrer Apartments, so lange zu den stampfenden Beats des Elektroswings heulten, bis ihre Nachbarn sich vor Wut die Augen ausrissen,
Die auf jedem Fest tanzten, so lange man sie ließ,
Die auf jeder Feier saßen und redeten, so lange jemand es hören wollte,
Die es nicht interessierte, ob es jemanden interessierte,
Die alles zu verstehen im Stande waren, und sich dafür entschieden, es nicht zu tun,
Die an den Universitäten schliefen, weil der Rest ihres Lebens ohne Schlaf auskommen musste,
Die niemals zu etwas dazugehören wollten und endlos lange über alles debattierten,
Die liebten und liebten und liebten, während sie alles um sich verbrannten,
Die sich hingebungsvoll hassten, während sie in der Kälte ihrer Wohnungen erfroren,
Die niemals nur einen Moment des puren Glücks erleben konnten, weil sie die stinkenden Kloaken ihrer Welt in ihrer unverhüllten Erbarmungslosigkeit erkannten,
Die sich unerschütterlich weigerten, die Schwänze jener zu lutschen, die es nicht verdienten,
Die sich ihre Strings bis unter die Achseln zogen, während sie Präsentationen über Marktentwicklung hielten in den vornehmsten Unternehmen der Stadt,
Die sich freiwillig von allem abwandten, was Sicherheit und Konvention eintätowiert hatte, einzig weil es für sie richtig war,
Die sich entschieden, eine Person für immer zu lieben, weil es für sie richtig war,
Die alle verlachten, die sich mit zwanzig in den atombetriebenen Vorhöllen der Speckgürtel einrollten,
Die ein Leben aus dem Koffer der Stakkatogleichschrittanordnung vorzogen,
Die unermüdlich für eine bessere Welt brannten und sich dafür öffentlich kastrierten,
Die in jeder Sekunde zu sterben bereit waren,
Die nicht nur erfolglos mit dem Gedanken an Suizid spielten,
Die jeden Tag als Last empfanden und ihm lauthals ins Gesicht spuckten,
Die das Konzept von Respekt nie verstanden,
Die das Konzept von Schubladen nie verstanden und lieber den ganzen Schreibtisch zerschlugen,
Die Symbole und verdrehte Sätze an ihre Zimmerwände kritzelten und ihre Verträge mit Blut unterzeichneten,
Die in den U-Bahnen einschliefen, weil sie nicht wollten, dass die Nächte endeten,
Die am Richard-Wagner-Platz um acht Uhr Morgens erwachten und den Schulkindern, Pendlern und Faschisten vor die Füße kotzten,
Die auf den Dächern tanzten und niemals „Eines Tages werde ich …“ sagten,
Für die jede Sekunde, die nicht erfüllt war vom Feuer ihrer Jugend, verschwendet war,
Die den Ruf der Straße hörten und nicht anders konnten, als ihm aus vollem Herzen zu antworten,
Die alle Konsequenzen bereitwillig akzeptierten, um für immer zu brennen, brennen, brennen, brennen, brennen,
Die ihre Sätze mit „definitiv“ beendeten und niemals zögerten, um ihren Worten Taten folgen zu lassen,
Die wortlose Poesie verfassten und mit ihren körpereigenen Lauten die Menschen aufscheuchten,
Die sich nicht scheuten, inspiriert zu sein und endlos lange Gedichte als Verneigung vor ihren toten Helden zu schreiben, selbst und gerade dann, wenn ihre Klingeltonkritiker ihnen mangelnde Avantgarde und nicht-existente Inspiration vorwarfen,
Die ihre Freunde mehr schätzten als sich selber,
Die auf alles fluchten und auf alles schworen, wie es ihnen gerade passte,
Die niemals etwas ernst nehmen konnten, insbesondere nicht sich selbst,
Die Abende damit verbrachten zu rauchen, zu trinken und ergebnislos zu philosophieren, in verstaubten Küchen mit überquellenden Aschenbechern und Whiskey aus Honiggläsern,
Die Hand in Hand tanzend die leeren nächtlichen Straßen des Prenzlauer Berges hinab sprangen und sich über die sich aus den Fenstern ergießenden Anfeindungen der weltoffenen und toleranten Anwohner amüsierten,
Die Äpfel aus Supermärkten klauten, weil sie glaubten, dass es abscheulich sei, Obst in Kisten eingepfercht zu halten,
Die wußten, dass sie verrückt waren und die ihre Idiotie nie irritierte,
Die mit geschlossenen Augen jeden Song, wild die Arme schlagend, mitsingen konnten,
Die erbarmungslos hart wirkten, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel ihre engelsgleichen Gesichter beschien,
Die durch die finstersten Straßen Neuköllns gingen und niemals Schräg angesehen wurden,
Die über die wichtigtuerischen Besserwisser ebenso lachten, wie über Punks, Hippies, Nazis, Kinder, Geschäftsleute, Katholiken, Protestanten, Juden, Moslems, Hindus, Buddhisten, Tote, Lebende, Frauen, Männer, Schwule, Lesben, Transgender, Heteros, Hundemenschen, Katzenmenschen, Menschenmenschen, Neandertaler, Fahrradfahrer, klitoralen, marginalen, retrorektalspektralen, ökolateralen, phallusalen Nonsens,
Die an nichts glaubten, außer an den neuen Tag und dessen Möglichkeiten,
Die sich nie zu schade für harte Arbeit waren, und jeden Job annahmen, so lange er in ihren Zeitplan passte,
Jene, die nur selten Jobs, aber dafür immer Zeit für ihre Lieben hatten,
Die ihr Geld für Drogen, Whiskey, Döner, Bier, Wein, Filme, Bücher und Platten ausgaben,
Die in allem mehr sahen, als bloß die Summe seiner Einzelteile,
Die ohne Vorwarnung in die entferntesten Winkel der Welt flohen, weil ihnen die Luft in Berlin zu drückend wurde,
Die fünf Jahre bewiesen, dass sie nicht pfeifen konnten, und trotzdem dafür geliebt wurden,
Die sich weigerten, dem corporate way of modern life seine Opfergaben darzubringen und dafür mit gesellschaftlicher Ignoranz bestraft wurden,
Die sich um Mitternacht in Pankow wiederfanden und Parolen aus Monty Python Filmen an die Häuserwände schmierten,
Die Theaterstücke ausbuhten, während alle anderen Gäste sie über alles abfeierten,
Die den Unterschied zwischen dreiviertel vier und viertel vor vier anhand ihrer leeren Gläser maßen und keinen Unterschied feststellen konnten,
Die das Konzept von Geld nie verstanden und es als lächerlich ansahen,
Die ihre Stücke öffentlich vernichteten, weil ihnen die Leute applaudierten,
Die am BER auf die Ankunft der ersten Flugzeuge warteten und an Alkoholvergiftung starben, bevor sie auch nur eines sahen,
Die hysterisch gackernd in Zügen von Görlitz nach Berlin fuhren und sich im abklingenden Rausch der vorhergegangenen Nacht sonnten,
Die sich öffentlich über alles lustig machten,
Deren Gaumen nach zu viel Suff nicht mehr abschwoll, bis sie wieder vollkommen berauscht und glücklich über die Böden rollten,
Die, statt an Bahnhöfen zu warten, sich lieber in den umliegenden Sexshops, Handyshops, Rundfunkgeräteshops, Einzelhandelsshops, Schlüpfershops und Bockwurstständen herumtrieben,
Die in jedem Haus, das sie betraten, sich auf den Boden warfen und laut den Gott des Todes anriefen, alle Ungläubigen unverzüglich zu erschlagen – die meisten Anwesenden reagierten pikiert,
Die zwei Tage durchtranken, nur um festzustellen, ob sich dadurch die Rotation des Mondes verändere, sobald sie ihre Augen schlössen,
Die lachten und lachten und lachten und lachten, bis ihnen das Zwerchfell riß und die Gesichtsmuskeln versagten,
Die auf den Demonstrationszügen tanzten, während die Müllcontainer und Straßenbarrikaden brannten und ihre gespenstischen Schatten warfen,
Die sich für fünf Tacken unter einen sovjetischen Panzer legten und dabei die Passanten des Ehrenmahls zum Ehrenmal um Hilfe anriefen,
Die sich in den Porzelangott salutierend erbrachen, jedes Mal, wenn ihnen jemand von ihren Investmenthedgfondsgötzen predigte, oder ihren Perspektivhülsen, oder ihren Präventionsopiaten,
Die den Gedanken an ein Gefängnis des Geistes als unerträglich empfanden und lieber die Selbstauslöschung wählten,
Die als Nachtschwärmer zu den Klängen von jazz und Jazz und JAZZ Flickflack schlagend durch die Weddinger Nacht sprangen,
Die im Sonnenuntergang auf den Dächern standen und riefen: „Hollallallaritimitikrababudaha!“, den Rhythmus der Welt auf ihren Bäuchen und mit ihren Händen trommelnd,
Die fest daran glaubten, dass sie ewig leben würden, so lange sie brannten unter dem rhythmischen Klackern der Trafohäuschen und dem tackernden Klicken der Straßenlichter,
Die starben, sterben werden in Einsamkeit, vergessen von der Welt, doch nie von ihren Freunden – Pech hat der letzte,
Die sagten: „Wir können alles und alles können wir sein!“ Für immer, immer, immer und niemals mit einem Kompromiss, oder nur einen Moment des Zweifels,
Um zu leuchten durch die Zeit und an allen Festen der Erde rüttelnd,
Vielleicht viel zu radikal,
Viel zu perspektivlos,
Aber immer mit einem vollen Herzen,
Und niemals bereuend,
Bis zum Ende.

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