Naive Wege


"Naive Wege" a short story by Wolf-Peter Arand

„Jeder Tag ist eine Flucht und ich weiß nicht, wie lange ich noch fliehen kann. Ich spüre die Angst in mir, die unaufhörlich wächst, die blüht und gedeiht, in der Wärme der Sicherheit, die Angst, die sich nährt an der versteckten Unsicherheit und der Furcht.“
Er hört nicht auf zu reden, schon seit Stunden nicht. Immer wieder derselbe Quatsch. Er redet über seine Freunde, über Sid und Nancy, über A. und H. über seinen Bruder, der nie wirklich sein Bruder war, seine Ex lässt er aus, aber das kostet ihn viel, ich spüre das. Jeder würde das spüren. 

Dafür weiß ich am Ende der Nacht alles über seine Ängste, ich weiß alles über sein Leben, das auch nur wie eine Aneinanderreihung von Befürchtungen, Vorurteilen und Pessimismus wirkt, wenn man es herunterbrechen wollen würde. Ich will es nicht. Ich will nur nach Hause, ich will den Park und die steinerne Mauer, auf der wir sitzen, hinter mir lassen. Ich bin müde. Die Sonne geht auf und ich bin müde. Immerhin muß mir bisher nichts wirklich peinlich sein. Immerhin kann ich bisher, ohne lügen zu müssen, erzählen, dass ich einem Einsamen etwas Gutes getan habe. 

Es ist nicht so, dass er mir nicht gefiele. Ich mag seine Haare und auch seine Stimme, aber ich bin noch lange nicht betrunken genug, um wegen dieser Sachen mich selbst über Bord zu werfen. Zwar war ich beim gefühlten fünfundzwanzigsten Bier, als ich einwilligte mit in die Kneipe zu kommen, aber seitdem bin ich wieder nüchterner geworden und jetzt macht das hier auch alles Sinn. Ich weiß, wo mich der Typ hinbekommen will und ich ärgere mich darüber, dass ich es erst jetzt begreife. Diese Naivität wird mich im schlimmsten Fall einmal umbringen. 

Der Himmel hat seine Farbe von dem nächtlichen Schwarz zum morgendlichen Blau gewechselt. Es ist ein schöner Anblick und würde ich mit jemand anderem hier sitzen, wäre es bestimmt auch ein unvergesslicher Moment. Doch mit ihm ist es nur erbärmlich. Er erzählt von Büchern und von Filmen und Bands, die ich nicht kenne. Er redet von Leuten, deren Namen ich noch nie gehört habe und ich nicke und lächle, nippe an meiner Cola und blicke hinaus auf den morgendlichen Park.

„Es ist fast sechs“, sagt er, „Ich muß nach Hause, schlafen.“
Seine Wohnung ist natürlich gleich um die Ecke. Er trägt mich Huckepack durch den Park. Wir lachen und scherzen, das ist unbeschwert und schön … unschuldig, hätte ich beinahe gesagt. Ich weiß, was er will, ich ahne, was er vor hat. Ich weiß nur noch nicht, wie ich drum herum komme.

Er besteht darauf, mich zur Bahn zu bringen. Vor der Treppe, die zum Bahnsteig herunter führt, bleibt er stehen und sagt, dass ich auch sehr gerne bei ihm penne könne. Er würde sich wie der perfekte Gentleman verhalten. 
Wer das glaubt, ist selber schuld.
Es ging die ganze Zeit nur um eine Sache und mit dem, was zwischen seinen Worten steht, bestätigt er alles. 
Ich lehne ab und wir gehen zum Bahnsteig herunter. Ich jongliere die Blume, die er mir pflügte in meiner Hand. Es war süß von ihm, sie mir zu schenken, altmodisch und steif. Ja, steif ist er, überhaupt nicht locker, und dabei hat er nicht weniger getrunken al s ich. Du hast das noch nicht oft gemacht, oder? Seine Unsicherheit ist fast mit den Händen zu greifen.

Am Gleis müssen wir fast 14 Minuten waren. Wir setzen uns auf eine Bank. Ich habe noch immer die Blume in der Hand, drehe sie, lege sie neben mich und lehne mich zurück. Er schaut zumir herüber: „War ein schöner Abend.“ Bestimmt. „Wir sind lange unterwegs gewesen.“ Es ist sechs Uhr in der Frühe. „Kannst du tanzen?“ Er zieht mich auf die Beine und an sich heran. Wir stehen dicht beieinander und er küsst mich – für die restlichen 10 Minuten. Es ist nicht schlecht. Er schmeckt nach Zigaretten, Alkohol und Kola, der Geschmack des Morgens. Wir halten uns in den Armen, eng und ich spüre, wie er steif wird, dieses Mal an der entscheidenden Stelle.
Er greift an meinen Hintern und die U-Bahn fährt ein. Ich löse mich aus dem Kuss und er versucht mich festzuhalten. „Bleib doch.“ Ich schüttle den Kopf und sage: „Das ist dafür, dass du gelogen hast.“ Ich verschwinde in der Bahn und werfe einen möglichst vorwurfsvollen Blick zurück. Ich bereue jetzt schon, ihm meine Emailadresse gegeben zu haben. 

Ich hasse es belogen zu werden.

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