Kommentar: Antisemitismus in Deutschland
Eine
Studie vom Januar dieses Jahres belegte, dass in knapp jedem Fünften in der Bevölkerung
latent antisemitische Tendenzen vorherrschen. Die Repräsentationsfähigkeit
solcher Studien ist stets mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Dennoch ist
diese Zahl erschreckend und alarmierend. Wenn Deutschlands Gesellschaft sich,
mittels seiner gewählten Repräsentanten, gegen Antisemitismus ausspricht, dann
reicht das bloße Lippenbekenntnis schwerlich. Entscheidender ist die Tat. Wenn
die Tat also ausbleibt, wo ist dann der Wert des Bekenntnis? Wie kann espassieren, dass in Berlin-Friedenau im August am helllichten Tag ein Mann vorden Augen seiner Tochter verprügelt und beschimpft wird?
Und
niemand hat etwas gesehen.
In
einer solchen Welt leben wir, wo alle wegschauen, wenn vor der eigenen Haustür
ein Mensch wegen seines Glaubens verhauen wird? Sicher, nicht jeder ist ein
Held, nicht jeder kann körperlich eingreifen. Aber mehr, als im Nachhinein das
Geschehen zu verurteilen, sollte doch drin sein.
Verwunderlich
ist, dass keine Frage nach den Gründen für diesen Gewaltausbruch gestellt wird.
Ist die Erklärung „Judenhass“ so befriedigend und erklärt sie wirklich alles?
Reicht es also aus, mit den üblichen Mitteln gegen solche Ausbrüche vorzugehen?
Noch mehr Aufklärung? Noch mehr Warnung? Oder lässt diese Tat viel tiefer
blicken? Ist sie vielleicht, wenn die Ergebnisse der Studie vom Januar des
Jahres berücksichtigt werden, Ausdruck eines viel tiefer sitzenden Versagens,
dessen oberster Auswuchs lediglich diese Gewalttat darstellt?
Eine
ehrliche und unverblümte Diskussion ist überfällig. Ehrlich zu sich selbst.
Ohne Scheu vor den dreckigen Tiefen der Psyche, vor den finsteren Abgründen,
die sich hinter der so penibel aufgeschichteten und neurotisch behüteten
Fassade des feisten, politisch korrekten Weltbürgers verbirgt. Es ist an der
Zeit, auszubrechen aus der Wohlfühlzone, in der sich die Mehrheit der
Bevölkerung gerne sieht, wenn es um den Themenkomplex Antisemitismus in
Deutschland geht.
Es gibt ihn nicht mehr,
den Judenhass in Deutschland. Für die meisten Bereiche und die Mehrheit der
Menschen mag dies stimmen. Doch es ist notwendig, aus den feigen Verbrechen
gegen jenen Rabbi in Berlin-Friedenau Konsequenzen zu ziehen. Sie beweisen,
dass der Antisemitismus immer noch in Deutschland existiert; vielleicht
versteckter und in veränderter Form als noch vor 60 oder 50 Jahren, doch er
lebt noch immer in diesem Land. Und das ist nicht tolerierbar. Es widerspricht
den Grundsätzen unserer Demokratie, unserer freien Gesellschaft und bedeutet
letztendlich, dass der Kampf noch nicht vorüber ist. Jeder einzelne von uns ist
in die Pflicht genommen, den Ausspruch gegen Antisemitismus nicht bloß ein
Lippenbekenntnis sein zu lassen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen